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Walther Kabel: Merkwürdige Trauergebräuche. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 170–172

Merkwürdige Trauergebräuche.

Alle alten Völker gaben dem Schmerz um den Verlust eines Angehörigen oder einer allgemein verehrten Person in der eigenartigsten Weise Ausdruck. Im alten Ägypten zerschlug und zerkratzte man sich Gesicht und Brust, beschmierte man sich mit Erde und Öl und entsagte Reinlichkeit und Schmuck. Die Trauergebräuche der alten Germanen und der Israeliten sind bekannt, ebenso die Sitte der indischen Witwenverbrennung. Eine weitverbreitete Äußerung des Schmerzes stellen die sogenannten Trauerverstümmelungen dar, wie man sie bei den Naturvölkern noch heute vorfindet. Ihren letzten Beweggrund haben diese in dem bei primitiven Völkern ganz allgemein vorhandenen Glauben an die Unnatürlichkeit des Todes, der in jedem einzelnen Falle von einem Mitmenschen verursacht sein muß. Da nun niemand sicher sein kann, daß nicht auch er selbst jenen Tod verursacht hat, so ergehen sich nicht nur einzelne, sondern ganze Stämme in wilder Selbstanklage und legen sich, um sich dem Toten gegenüber zu rechtfertigen, die unerhörtesten Martern auf, die sogar zum Abschneiden einzelner Gliedmaßen ausarten. Besonders Fingeropfer galten früher als Ablösungsformen für das Leben der Witwe oder

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Walther Kabel: Merkwürdige Trauergebräuche. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 170–172. Verlag der Bibliothek für Alle, Dresden 1912, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Merkw%C3%BCrdige_Trauergebr%C3%A4uche.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)