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nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten. –

Ein Ausleseprozeß also scheint es zu sein, den wir sich vollziehen sehen. Beide Nationalitäten sind in die gleichen Existenzbedingungen seit langer Zeit hineingestellt. Die Folge war nicht, daß sie, wie der Vulgärmaterialismus sich vorstellt, die gleichen physischen und psychischen Qualitäten annahmen, sondern daß die eine der andern weicht, daß diejenige siegt, welche die größere Anpassungsfähigkeit an die gegebenen ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen besitzt.

Diese verschiedene Anpassungsfähigkeit selbst bringen sie, so scheint es, als feste Größe mit, sie könnte vielleicht im Verlaufe generationenlanger Züchtungsprozesse so, wie sie in Jahrtausenden entstanden sein mag, wieder verschoben werden, aber für die Erwägungen der Gegenwart ist sie ein Moment, mit welchem wir als gegeben zu rechnen haben[1]. –

Nicht immer – das sehen wir – schlägt, wie die Optimisten


  1. Ich glaube kaum, bemerken zu müssen, daß die naturwissenschaftlichen Streitfragen über die Tragweite des Selektionsprinzipes, überhaupt die naturwissenschaftliche Verwendung des Begriffes der „Züchtung“ und alle Erörterungen, die sich daran auf jenem, mir fremden Gebiete knüpfen, für die obigen Bemerkungen irrelevant sind. Der Begriff der „Auslese“ ist heute ebenso Gemeingut, wie etwa die heliocentrische Hypothese, und der Gedanke der Menschen-„Züchtung“ gehört schon dem platonischen Staat an. Beide Begriffe sind z. B. schon von F. A. Lange in seiner „Arbeiterfrage“ verwendet und bei uns längst derart heimisch, daß ein Mißverständnis ihres Sinnes für Niemand, der unsere Litteratur kennt, möglich ist. Schwieriger ist die Frage, wieweit den neuesten, geistreichen, aber nach Methode und sachlichen Ergebnissen erhebliche Bedenken erregenden, in mancher Uebertreibung zweifellos verfehlten Versuchen der Anthropologen, die Tragweite des Auslesegesichtspunktes im Sinne Darwins [12] und Weismanns auch auf dem Boden der ökonomischen Forschung zu verbreitern, dauernder Wert zukommt. Trotzdem verdienen z. B. die Schriften von Otto Ammon („Die natürliche Auslese beim Menschen“. „Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen“) jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als ihnen zu Teil wird, – unbeschadet aller zu machender Vorbehalte. Ein Fehler der meisten von naturwissenschaftlicher Seite gelieferten Beiträge zur Beleuchtung der Fragen unserer Wissenschaft liegt in dem verfehlten Ehrgeiz, vor allen Dingen den Sozialismus „widerlegen“ zu wollen. Im Eifer dieses Zweckes wird aus der vermeintlichen „naturwissenschaftlichen Theorie“ der Gesellschaftsordnung unwillkürlich eine Apologie derselben.