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[14] des Militärs stattfinden. – In Jelissawetgrad beginnt am 10. Juli in allen Fabriken der Streik mit rein ökonomischen Forderungen. Sie werden meistens bewilligt, und am 14. Juli hört der Streik auf. Allein zwei Wochen später bricht er wieder aus; diesmal geben die Bäcker die Parole, ihnen folgen die Steinarbeiter, Tischler, Färber, Mühlenarbeiter und schließlich wieder alle Fabrikarbeiter. – In Odessa beginnt die Bewegung mit einem Lohnkampfe, in den der von Regierungsagenten nach dem Programm des berühmten Gendarmen Subatow gegründete „legale“ Arbeiterverein verwickelt wurde. Die geschichtliche Dialektik hat wieder Gelegenheit genommen, einen ihrer hübschen boshaften Streiche auszuführen: Die ökonomischen Kämpfe der früheren Periode – darunter der große Petersburger Generalstreik von 1896 – hatten die russische Sozialdemokratie zur Übertreibung dessen. „Oekonomismus“ verleitet, wodurch sie in der Arbeiterschaft für das demagogische Treiben des Subatow den Boden bereitet hatte. Nach einer Weile drehte aber der große revolutionäre Stromdas Schifflein mit der falschen Flagge um und zwang es, gerade an der Spitze der revolutionären proletarischen Flottille zu schwimmen. Die Subatowschen Vereine gaben im Frühling 1904 die Parole zu dem großen Generalstreik in Odessa, wie im Januar 1905 zu dem Generalstreik in Petersburg. Die Arbeiter in Odessa, die in den Wahn von der aufrichtigen Arbeiterfreundlichkeit der Regierung und ihrer Sympathie für rein ökonomischen Kampf gewiegt wurden, wollten plötzlich eine Probe aufs Exempel machen und zwangenden Subatowschen „Arbeiterverein“, in einer Fabrik den Streik um bescheidenste Forderungen zu erklären. Sie wurden darauf vom Unternehmer einfach aufs Pflaster gesetzt, und als sie von dem Leiter ihres Vereins den versprochenen obrigkeitlichen Schutz forderten, verduftete der Herr und ließ die Arbeiter in wilder Gärung zurück. Alsbald stellten sich die Sozialdemokraten an die Spitze, und die Streikbewegung sprang auf andere Fabriken über. Am 1. Juli streiken 2500 Eisenbahnarbeiter, am 4. Juli treten die Hafenarbeiter in den Streik um eine Erhöhung der Löhne von 80 Kopeken auf 2 Rubel und Verkürzung der Arbeitszeit um eine halbe Stunde. Am 6. Juli schließen sich die Seeleute der Bewegung an. Am 13. Juli beginnt der Ausstand des Trambahnpersonals. Nun findet eine Versammlung sämtlicher Streikenden, 78 000 Mann, statt; es bildet sich ein Zug, der von Fabrik zu Fabrik geht und, lawinenartig anwachsend, schon als eine 40-50 000köpfige Menge sich zum Hafen begibt, um hier jede Arbeit zum Stillstand zu bringen. Bald herrscht in der ganzen Stadt der Generalstreik. – In Kijew beginnt am 21. Juli der Ausstand in den Eisenbahnwerkstätten. Auch hier ist der nächste Anlaß miserable Arbeitsbedingungen, und es werden Lohnforderungen aufgestellt. Am anderen Tage folgen dem Beispiel die Gießereien. Am 23. Juli passiert darauf ein Zwischenfall, der das Signal zum Generalstreik gibt. In der Nacht wurden zwei Delegierte der Eisenbahnarbeiter verhaftet; die Streikenden fordern sofort ihre Freilassung, und als dies nicht erfüllt wird, beschließen sie, die Eisenbahnzüge nicht aus der Stadt herauszulassen. Am Bahnhof [15] setzen sich auf den Schienenstrang sämtliche Streikenden mit Weib und Kind – ein Meer von Menschenköpfen. Man droht mit Gewehrsalven. Die Arbeiter entblößen darauf ihre Brust und rufen: „Schießt!“ Eine Salve wird auf die wehrlose, sitzende Menge abgefeuert und 30-40 Leichen, darunter Frauen und Kinder, bleiben auf dem Platze liegen. Auf diese Kunde erhebt sich am gleichen Tage ganz Kijew zum Streik. Die Leichen der Ermordeten werden von der Menge emporgehoben und in einem Massenzug herumgetragen. Versammlungen, Reden, Verhaftungen, einzelne Straßenkämpfe – Kijew steht mitten in der Revolution. Die Bewegung geht bald zu Ende; dabei haben aber die Buchdrucker eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde und eine Lohnerhöhung um einen Rubel gewonnen; in einer Hefefabrik ist der Achtstundentag eingeführt worden; die Eisenbahnwerkstätten wurden auf Beschluß des Ministeriums geschlossen; andere Branchen führten partielle Streiks um ihre Forderungen weiter. – In Nikolajew bricht der Generalstreik unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachrichten aus Odessa, Baku, Batum und Tiflis aus, trotz des Widerstandes des sozialdemokratischen Komitees, das den Ausbruch der Bewegung auf den Zeitpunkt hinausschieben wollte, wo das Militär zum Manöver aus der Stadt ziehen sollte. Die Masse ließ sich nicht zurückhalten; eine Fabrik machte den Anfang, die Streikenden gingen von einer Werkstatt zur anderen, der Widerstand des Militärs goß nur Oel ins Feuer. Bald bildeten sich Massenumzüge mit revolutionärem Gesang, die alle Arbeiter, Angestellten, Trambahnbedienstete, Männer und Frauen, mitrissen. Die Arbeitsruhe war eine vollkommene. – In Jekaterinoslaw beginnen am 5. August die Bäcker, am 7. die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte, darauf alle anderen Fabrikenden Streik; am 8. August hört der Trambahnverkehr auf, die Zeitungen erscheinen nicht. – So kam der grandiose Generalstreik Südrußlands im Sommer 1903 zu stande. Aus vielen kleinen Kanälen partieller ökonomischer Kämpfe und kleiner „zufälliger“ Vorgänge floß er rasch zu einem gewaltigen Meer zusammen und verwandelte den ganzen Süden des Zarenreichs für einige Wochen in eine bizarre, revolutionäre Arbeiterrepublik. „Brüderliche Umarmungen, Rufe des Entzückens und der Begeisterung, Freiheitslieder, frohes Gelächter, Humor und Freude hörte man in der vieltausendköpfigen Menge, die vom Morgen bis Abend in der Stadt wogte. Die Stimmung war eine gehobene; man konnte beinahe glauben, daß ein neues, besseres Leben auf Erden beginnt. Ein tiefernstes und zugleich idyllisches, rührendes Bild.“ ... So schrieb damals der Korrespondent im liberalen „Oswoboshdenje" des Herrn Peter v. Struve.

     Das Jahr 1904 brachte gleich im Anfang den Krieg und für eine Weile eine Ruhepause in der Massenstreikbewegung mit sich. Zuerst ergoß sich eine trübe Welle polizeilich veranstalteter „patriotischer“ Demonstrationen über das Land. Die „liberale“ bürgerliche Gesellschaft wurde vorerst von dem zarisch offiziellen Chauvinismus ganz zu Boden geschmettert. Doch nimmt die Sozialdemokratie bald den Kampfplatz wieder in Besitz; den polizeilichen Demonstrationen des patriotischen Lumpenproletariats werden revolutionäre Arbeiterdemonstrationen

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/8&oldid=- (Version vom 29.6.2019)