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[8] moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer Handvoll gewissenloser „Wühler und Hetzer“.

     Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger „Revolutionsromantiker“ und ihrer „Propaganda des Massenstreiks“ zu warnen; oder wenn auf der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen inszeniert wird, die sich durch irgendwelche „vertraulichen“ Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der Gewerkschaften um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland betrogen glauben. Käme es auf die zündende „Propaganda“ der Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man – wie ich bereits im März 1905 in der „Sächs. Arbeiterzeitung“ hervorgehoben habe – so wenig daran, den Massenstreik zu „propagieren“ oder selbst zu „diskutieren“, wie in Rußland. Und die vereinzelten Beispiele von Beschlüssen und Abmachungen des russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aus freien Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuch im August dieses Jahres nach der Duma Auflösung, sind fast gänzlich gescheitert. Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, daß der Massenstreik nicht künstlich „gemacht“, nichts ins Blaue hinein „beschlossen“, nicht „propagiert“ wird, sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.
     Nicht durch abstrakte Spekulationen also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks, sondern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderen Worten: nicht durch subjektive Beurteilung des Massenstreiks vom Standpunkte des Wünschbaren, sondern durch objektive Untersuchung der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte des geschichtlich Notwendigen kann das Problem allein erfaßt und auch diskutiert werden.

     In der freien Luft der abstrakten logischen Analyse lassen sich die absolute Unmöglichkeit und die sichere Niederlage, sowie die vollkommene Möglichkeit und der zweifellose Sieg des Massenstreiks mit genau derselben Kraft beweisen. Und deshalb ist der Wert der Beweisführung in beiden Fällen derselbe, nämlich gar keiner. Daher ist auch insbesondere die Furcht vor dem „Propagieren“ des Massenstreiks, die sogar zu förmlichen Bannflüchen gegen die vermeintlichen Schuldigen dieses Verbrechens geführt hat, lediglich das Produkt eines drolligen Quiproquo. Es ist genauso unmöglich, den Massenstreik als abstraktes Kampfmittel zu „propagieren“, wie es unmöglich ist, die „Revolution“ zu propagieren. „Revolution“ wie „Massenstreik“ sind Begriffe, die selbst bloß eine äußere Form des [9] Klassenkampfes bedeuten, die nur im Zusammenhang mit ganz bestimmten politischen Situationen Sinn und Inhalt haben.

     Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu machen, mit dieser „Idee“ hausieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige aber auch ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation machen wollte. Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen und den Bedingungen des Klassenkampfes bedeutet. Es zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften Intelligenz der deutschen Proletariermasse, daß sie sich – ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen, daß man sie mit abstrakter Hirngymnastik über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Massenstreiks traktiert, sondern dadurch, daß man ihnen die Entwicklung der russischen Revolution, die internationale Bedeutung dieser Revolution, die Verschärfung der Klassengegensätze in Westeuropa, die weiteren politischen Perspektiven des Klassenkampfes in Deutschland, die Rolle und die Aufgaben der Masse in den kommenden Kämpfen klar macht. Nur in dieser Form wird die Diskussion über den Massenstreik dazu führen, den geistigen Horizont des Proletariats zu erweitern, sein Klassenbewußtsein zu schärfen, seine Denkweise zu vertiefen und seine Tatkraft zu stählen.

     Steht man aber auf diesem Standpunkte, dann erscheint in seiner ganzen Lächerlichkeit auch der Strafprozeß, der von den Gegnern der „Revolutionsromantik“ gemacht wird, weil man sich bei der Behandlung des Problems nicht genau an den Wortlaut der Jenaer Resolution halte. Mit dieser Resolution geben sich die „praktischen Politiker“ allenfalls noch zufrieden, weil sie den Massenstreik hauptsächlich mit den Schicksalen des allgemeinen Wahlrechts verkoppelt, woraus sie zweierlei folgern zu können glauben: erstens, daß dem Massenstreik ein rein defensiver Charakter bewahrt, zweitens, daß der Massenstreik selbst dem Parlamentarismus untergeordnet, in ein bloßes Anhängsel des Parlamentarismus verwandelt wird. Der wahre Kern der Jenaer Resolution liegt aber in dieser Beziehung darin, daß bei der gegenwärtigen Lage in Deutschland ein Attentat der herrschenden Reaktion auf das Reichstagswahlrecht höchst wahrscheinlich das Einleitungsmoment und das Signal zu jener Periode stürmischer politischer Kämpfe abgeben dürfte, in denen der Massenstreik als Kampfmittel in Deutschland wohl zuerst in Anwendung kommen wird. Allein die soziale Tragweite und den geschichtlichen Spielraum des Massenstreiks als Erscheinung und als Problem des Klassenkampfes durch den Wortlaut einer Parteitagsresolution

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/5&oldid=- (Version vom 29.6.2019)