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[60] Selbstzweck, in ein höchstes Gut verwandelt wird, dem die Interessen des Kampfes untergeordnet werden sollen. Daraus erklärt sich auch jenes offen zugestandene Ruhebedürfnis, das vor einem größeren Risiko und vor vermeintlichen Gefahren für den Bestand der Gewerkschaften, vor der Ungewißheit größerer Massenaktionen zurückschreckt, ferner die Überschätzung der gewerkschaftlichen Kampfesweise selbst, ihrer Aussichten und ihrer Erfolge. Die beständig von dem ökonomischen Kleinkrieg absorbierten Gewerkschaftsleiter, die es zur Aufgabe haben, den Arbeitermassen den hohen Wert jeder noch so geringen ökonomischen Errungenschaft, jeder Lohnerhöhung oder Verkürzung der Arbeitszeit plausibel zu machen, kommen allmählich dahin, daß sie selbst die größeren Zusammenhänge und den Überblick über die Gesamtlage verlieren. Nur dadurch kann erklärt werden, daß manche Gewerkschaftsführer z. B. mit so großer Genugtuung auf die Errungenschaften der letzten 15 Jahre, auf die Millionen Mark Lohnerhöhungen hinweisen, anstatt umgekehrt den Nachdruck auf die andere Seite der Medaille zu legen: auf die gleichzeitig stattgefundene ungeheure Herabdrückung der proletarischen Lebenshaltung durch den Brotwucher, durch die gesamte Steuer und Zollpolitik, durch den Bodenwucher, der die Wohnungsmieten in so exorbitanter Weise in die Höhe getrieben hat, mit einem Wort, auf all die objektiven Tendenzen der bürgerlichen Politik, die jene Errungenschaften der 15jährigen gewerkschaftlichen Kämpfe zu einem großen Teil wieder wett machen. Aus der ganzen sozialdemokratischen Wahrheit, die neben der Betonung der Gegenwartsarbeit und ihrer absoluten Notwendigkeit das Hauptgewicht auf die Kritik und die Schranken dieser Arbeit legt, wird so die halbe gewerkschaftliche Wahrheit zurechtgestutzt, die nur das Positive des Tageskampfes hervorhebt. Und schließlich wird aus dem Verschweigen der dem gewerkschaftlichen Kampfe gezogenen objektiven Schranken der bürgerlichen Gesellschaftsordnung eine direkte Feindseligkeit gegen jede theoretische Kritik, die auf diese Schranken im Zusammenhang mit den Endzielen der Arbeiterbewegung hinweist. Die unbedingte Lobhudelei, der grenzenlose Optimismus werden zur Pflicht jedes „Freundes der Gewerkschaftsbewegung“ gemacht. Da aber der sozialdemokratische Standpunkt gerade in der Bekämpfung des kritiklosen gewerkschaftlichen Optimismus ganz wie in der Bekämpfung des kritiklosen parlamentarischen Optimismus besteht, so wird schließlich gegen die sozialdemokratische Theorie selbst Front gemacht: man sucht tastend nach einer „neuen gewerkschaftlichen Theorie“, d. h. nach einer Theorie, die den gewerkschaftlichen Kämpfen im Gegensatz zur sozialdemokratischen Lehre auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung ganz unbeschränkte Perspektiven des wirtschaftlichen Aufstiegs eröffnen würde. Eine solche Theorie existiert freilich schon seit geraumer Zeit: es ist dies die Theorie von Prof. Sombart, die ausdrücklich mit der Absicht aufgestellt wurde, einen Keil zwischen die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie in Deutschland zu treiben und die Gewerkschaften auf bürgerlichen Boden hinüberzulocken.

     Im engen Zusammenhang mit diesen theoretischen Tendenzen [61] steht ein Umschwung im Verhältnis der Führer zur Masse. An Stelle der kollegialen Leitung durch lokale Kommissionen mit ihren zweifellosen Unzulänglichkeiten tritt die geschäftsmäßige Leitung des Gewerkschaftsbeamten. Die Initiative und die Urteilsfähigkeit werden damit sozusagen zu seiner Berufsspezialität, während der Masse hauptsächlich die mehr passive Tugend der Disziplin obliegt. Diese Schattenseiten des Beamtentums bergen sicherlich auch für die Partei bedeutende Gefahren in sich, die sich aus der jüngsten Neuerung, aus der Anstellung der lokalen Parteisekretäre, sehr leicht ergeben können, wenn die sozialdemokratische Masse nicht darauf bedacht sein wird, daß die genannten Sekretäre reine Vollziehungsorgane bleiben und nicht etwa als die berufenen Träger der Initiative und der Leitung des lokalen Parteilebens betrachtet werden. Allein dem Bureaukratismus sind in der Sozialdemokratie durch die Natur der Sache, durch den Charakter des politischen Kampfes selbst engere Grenzen gezogen, als im Gewerkschaftsleben. Hier bringt gerade die technische Spezialisierung der Lohnkämpfe, z. B, der Abschluß von komplizierten Tarifverträgen und dergleichen, mit sich, daß der Masse der Organisierten häufig „der Überblick über das gesamte Gewerbsleben“ abgesprochen und damit ihre Urteilsunfähigkeit begründet wird. Eine Blüte dieser Auffassung ist namentlich auch die Argumentation, mit der jede theoretische Kritik an den Aussichten und Möglichkeiten der Gewerkschaftspraxis verpönt wird, weil sie angeblich eine Gefahr für die gewerkschaftsfromme Gesinnung der Masse darstelle. Es wird dabei von der Ansicht ausgegangen, daß die Arbeitermasse nur bei blindem, kindlichem Glauben an das Heil des Gewerkschaftskampfes für die Organisation gewonnen und erhalten werden könne. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die gerade auf der Einsicht der Masse in die Widersprüche der bestehenden Ordnung und in die ganze komplizierte Natur ihrer Entwicklung, auf dem kritischen Verhalten der Masse zu allen Momenten und Stadien des eigenen Klassenkampfes ihren Einfluß basiert, wird der Einfluß und die Macht der Gewerkschaften nach dieser verkehrten Theorie auf der Kritik und Urteilslosigkeit der Masse gegründet. „Dem Volke muß der Glaube erhalten werden“ – dies der Grundsatz, aus dem heraus manche Gewerkschaftsbeamten alle Kritik an den objektiven Unzulänglichkeiten der Gewerkschaftsbewegung zu einem Attentat auf diese Bewegung selbst stempeln. Und endlich ein Resultat dieser Spezialisierung und dieses Bureaukratismus unter den Gewerkschaftsbeamten ist auch die starke Verselbständigung und die „Neutralität“ der Gewerkschaften gegenüber der Sozialdemokratie. Die äußere Selbständigkeit der gewerkschaftlichen Organisation hat sich mit ihrem Wachstum als eine natürliche Bedingung ergeben, als ein Verhältnis, das aus der technischen Arbeitsteilung zwischen der politischen und der gewerkschaftlichen Kampfform erwächst. Die „Neutralität“ der deutschen Gewerkschaften kam ihrerseits als ein Produkt der reaktionären Vereinsgesetzgebung, des preußisch-deutschen Polizeistaates auf. Mit der Zeit haben beide Verhältnisse ihre Natur geändert. Aus dem polizeilich erzwungenen Zustand der politischen „Neutralität“ der Gewerkschaften ist nachträglich eine Theorie ihrer

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/31&oldid=- (Version vom 9.9.2019)