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[58] freisinnigen Gewerkschaft anzuschließen, keine von diesen, sondern die „freie Gewerkschaft“ wählt, oder gar aus jenen in diese übertritt, so tut er dies nur, weil er die Zentralverbände als ausgesprochene Organisationen des modernen Klassenkampfes, oder, was in Deutschland dasselbe, als sozialdemokratische Gewerkschaften auffaßt. Kurz: der Schein der „Neutralität“, der für manche Gewerkschaftsführer existiert, besteht für die Masse der gewerkschaftlich Organisierten nicht. Und dies ist das ganze Glück der Gewerkschaftsbewegung. Sollte jener Schein der „Neutralität“, jene Entfremdung und Loslösung der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie je zur Wahrheit und namentlich in den Augen der proletarischen Masse zur Wirklichkeit werden, dann würden die Gewerkschaften sofort ihren ganzen Vorzug gegenüber den bürgerlichen Konkurrenzverbänden und damit auch ihre Werbekraft, ihr belebendes Feuer, verlieren. Das Gesagte wird durch allgemein bekannte Tatsachen schlagend bewiesen. Der Schein der parteipolitischen „Neutralität“ der Gewerkschaften könnte nämlich als Anziehungsmittel hervorragende Dienste leisten in einem Lande, wo die Sozialdemokratie selbst keinen Kredit bei den Massen besitzt, wo ihr Odium einer Arbeiterorganisation in den Augen der Masse noch eher schadet als nützt, wo mit einem Wort die Gewerkschaften ihre Truppen erst aus einer ganz unaufgeklärten, bürgerlich gesinnten Masse selbst rekrutieren müssen.

     Das Muster eines solchen Landes war das ganze vorige Jahrhundert hindurch und ist auch heute noch in gewissem Maße – England. In Deutschland jedoch liegen die Parteiverhältnisse ganz anders. In einem Lande, wo die Sozialdemokratie die mächtigste politische Partei ist, wo ihre Werbekraft durch ein Heer von über drei Millionen Proletariern dargestellt wird, da ist es lächerlich, von dem abschreckenden Odium der Sozialdemokratie zu sprechen und von der Notwendigkeit einer Kampforganisation der Arbeiter, die politische Neutralität zu wahren. Die bloße Zusammenstellung der Ziffer der sozialdemokratischen Wähler mit den Ziffern der gewerkschaftlichen Organisationen in Deutschland genügt, um für jedes Kind klarzumachen, daß die deutschen Gewerkschaften ihre Truppen nicht, wie in England, aus der unaufgeklärten bürgerlich gesinnten Masse, sondern aus der Masse der bereits durch die Sozialdemokratie aufgerüttelten und für den Gedanken des Klassenkampfes gewonnenen Proletarier, aus der sozialdemokratischen Wählermasse werben. Manche Gewerkschaftsführer weisen mit Entrüstung – dies ein Requisit der „Neutralitätstheorie“ – den Gedanken von sich, die Gewerkschaften als Rekrutenschule für die Sozialdemokratie zu betrachten. Tatsächlich ist diese ihnen so beleidigend erscheinende, in Wirklichkeit höchst schmeichelhafte Zumutung in Deutschland durch den einfachen Umstand zur Phantasie gemacht, weil die Verhältnisse meistens umgekehrt liegen; es ist die Sozialdemokratie, die in Deutschland die Rekrutenschule für die Gewerkschaften bildet. Wenn auch das Organisationswerk der Gewerkschaften meistens noch ein sehr schweres und mühseliges ist, so ist, abgesehen von manchen Gegenden und Fällen, im großen und ganzen nicht bloß der Boden bereits durch den sozialdemokratischen Pflug urbar gemacht worden, sondern die [59] gewerkschaftliche Saat selbst und endlich der Säemann müssen auch noch „rot“, sozialdemokratisch sein, damit die Ernte gedeiht. Wenn wir aber auf diese Weise die gewerkschaftlichen Stärkezahlen nicht mit den sozialdemokratischen Organisationen, sondern, was das einzig richtige ist, mit der sozialdemokratischen Wählermasse vergleichen, so kommen wir zu einem Schluß, der von der landläufigen Vorstellung in dieser Hinsicht bedeutend abweicht. Es stellt sich nämlich heraus, daß die „freien Gewerkschaften“ heute tatsächlich noch die Minderheit der klassenbewußten Arbeiterschaft Deutschlands darstellen, haben sie doch mit ihrer 1¼ Million Organisierter noch nicht die Hälfte der von der Sozialdemokratie aufgerüttelten Masse ausschöpfen können.

     Der wichtigste Schluß aus den angeführten Tatsachen ist der, daß die für die kommenden Massenkämpfe in Deutschland unbedingt notwendige völlige Einheit der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung tatsächlich vorhanden ist, und zwar ist sie verkörpert in der breiten Masse, die gleichzeitig die Basis der Sozialdemokratie wie der Gewerkschaften bildet und in deren Bewußtsein beide Seiten der Bewegung zu einer geistigen Einheit verschmolzen sind. Der angebliche Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften schrumpft bei dieser Sachlage zu einem Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und einem gewissen Teil der Gewerkschaftsbeamten zusammen, der aber zugleich ein Gegensatz innerhalb der Gewerkschaften zwischen diesem Teil der Gewerkschaftsführer und der gewerkschaftlich organisierten proletarischen Masse ist.

     Das starke Wachstum der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland im Laufe der letzten 15 Jahre, besonders in der Periode der wirtschaftlichen Hochkonjunktur 1895–1900, hat von selbst eine große Verselbständigung der Gewerkschaften, eine Spezialisierung ihrer Kampfmethoden und ihrer Leitung und endlich das Aufkommen eines regelrechten gewerkschaftlichen Beamtenstandes mit sich gebracht. All diese Erscheinungen sind ein vollkommen erklärliches und natürliches geschichtliches Produkt des fünfzehnjährigen Wachstums der Gewerkschaften, ein Produkt der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Windstille in Deutschland. Sie sind, wenn auch von gewissen Übelständen unzertrennlich, doch zweifellos ein historisch notwendiges Übel. Allein die Dialektik der Entwicklung bringt es eben mit sich, daß diese notwendigen Förderungsmittel des gewerkschaftlichen Wachstums auf einer gewissen Höhe der Organisation und bei einem gewissen Reifegrad der Verhältnisse in ihr Gegenteil, in Hemmnisse des weiteren Wachstums umschlagen.

     Die Spezialisierung ihrer Berufstätigkeit als gewerkschaftlicher Leiter sowie der naturgemäß enge Gesichtskreis, der mit den zersplitterten ökonomischen Kämpfen in einer ruhigen Periode verbunden ist, führen bei den Gewerkschaftsbeamten nur zu leicht zum Bureaukratismus und zu einer gewissen Enge der Auffassung. Beides äußert sich aber in einer ganzen Reihe von Tendenzen, die für die Zukunft der gewerkschaftlichen Bewegung selbst höchst verhängnisvoll werden könnten. Dahin gehört vor allem die Überschätzung der Organisation, die aus einem Mittel zum Zweck allmählich in einen

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/30&oldid=- (Version vom 9.9.2019)