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[42] zahlenmäßigen Berechnung festzustellen, wann das Proletariat zu irgend einem Kampfe „stark genug sei“. Vor 30 Jahren zählten die deutschen Gewerkschaften 50000 Mitglieder. Das war offenbar eine Zahl, bei der, nach dem obigen Maßstab, an einen Massenstreik nicht zu denken war. Nach weiteren 15 Jahren waren die Gewerkschaften viermal so stark und zählten 237000 Mitglieder. Wenn man jedoch damals die heutigen Gewerkschaftsführer gefragt hätte, ob nun die Organisation des Proletariats zu einem Massenstreik reif wäre, so hätten sie sicher geantwortet, daß dies bei weitem nicht der Fall sei und daß die gewerkschaftlich Organisierten erst nach Millionen zählen müßten. Heute gehen die organisierten Gewerkschaftsmitglieder bereits in die zweite Million, aber die Ansicht ihrer Führer ist genau dieselbe, was offenbar so ins Unendliche gehen kann. Stillschweigend wird dabei vorausgesetzt, daß überhaupt die gesamte Arbeiterklasse Deutschlands bis auf den letzten Mann und die letzte Frau in die Organisation aufgenommen werden müsse, bevor man „stark genug sei“, eine Massenaktion zu wagen, die alsdann, nach der alten Formel, sich auch noch wahrscheinlich als „überflüssig“ herausstellen würde. Diese Theorie ist jedoch aus dem einfachen Grunde völlig utopisch, weil sie an einem inneren Widerspruch leidet, sich im schlimmen Zirkel dreht. Die Arbeiter sollen, bevor sie irgendeinen direkten Klassenkampf vornehmen können, sämtlich organisiert sein. Die Verhältnisse, die Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung und des bürgerlichen Staates bringen es aber mit sich, daß bei dem „normalen“ Verlauf der Dinge, ohne stürmische Klassenkämpfe, bestimmte Schichten – und zwar gerade das Gros, die wichtigsten, die tiefst stehenden, die vom Kapital und vom Staate am meisten gedrückten Schichten des Proletariats – eben gar nicht organisiert werden können. Sehen wir doch selbst in England, daß ein ganzes Jahrhundert unermüdlicher Gewerkschaftsarbeit ohne alle „Störungen“ – ausgenommen im Anfange die Periode der Chartistenbewegung – ohne alle „revolutionsromantischen“ Verirrungen und Lockungen, es nicht weiter gebracht haben, als dahin, eine Minderheit der bessersituierten Schichten des Proletariats zu organisieren.

     Anderseits aber können die Gewerkschaften, wie alle Kampforganisationen des Proletariats, sich selbst nicht auf die Dauer anders erhalten, als gerade im Kampf, und zwar nicht im Sinne allein des Froschmäusekrieges in den stehenden Gewässern der bürgerlich-parlamentarischen Periode, sondern im Sinne heftiger, revolutionärer Perioden des Massenkampfes. Die steife, mechanisch-bürokratische Auffassung will den Kampf nur als Produkt der Organisation auf einer gewissen Höhe ihrer Stärke gelten lassen. Die lebendige dialektische Entwicklung läßt umgekehrt die Organisation als ein Produkt des Kampfes entstehen. Wir haben bereits ein grandioses Beispiel dieser Erscheinung in Rußland gesehen, wo ein so gut wie gar nicht organisiertes Proletariat sich in anderthalb Jahren stürmischen Revolutionskampfes ein umfassendes Netz von Organisationsansätzen geschaffen hat. Ein anderes Beispiel dieser Art zeigt die eigene Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Im [43] Jahre 1878 betrug die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder 50 000. Nach der Theorie der heutigen Gewerkschaftsführer war diese Organisation, wie gesagt, bei weitem nicht „stark genug“, um einen heftigen politischen Kampf aufzunehmen. Die deutschen Gewerkschaften haben aber, so schwach sie damals waren, den Kampf aufgenommen – nämlich den Kampf mit dem Sozialistengesetz [1] – und sie erwiesen sich nicht nur „stark genug“, aus dem Kampfe als Sieger hervorzugehen, sondern sie haben in diesem Kampfe ihre Kraft verfünffacht; sie umfaßten nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahre 1891 277659 Mitglieder. Allerdings entspricht die Methode, nach der die Gewerkschaften im Kampfe mit dem Sozialistengesetz gesiegt haben, nicht dem Ideal eines friedlichen, bienenartigen ununterbrochenen Ausbaus; sie gingen erst im Kampfe sämtlich in Trümmer, um sich dann aus der nächsten Welle emporzuschwingen und neugeboren zu werden. Dies ist aber eben die den proletarischen Klassenorganisationen entsprechende spezifische Methode des Wachs tums: im Kampfe sich zu erproben und aus dem Kampfe wieder reproduziert hervorzugehen.

     Nach näherer Prüfung der deutschen Verhältnisse und der Lage der verschiedenen Schichten der Arbeiter ist es klar, daß auch die kommende Periode stürmischer politischer Massenkämpfe für die deutschen Gewerkschaften nicht den befürchteten drohenden Untergang, sondern umgekehrt neue ungeahnte Perspektiven einer rapiden sprungweisen Erweiterung ihrer Machtsphäre mit sich bringen würde. Allein, die Frage hat noch eine andere Seite. Der Plan, Massenstreiksals ernste politische Klassenaktion bloß mit Organisierten zu unternehmen, ist überhaupt ein gänzlich hoffnungsloser. Soll der Massenstreik oder vielmehr sollen die Massenstreiks, soll der Massenkampf einen Erfolg haben, so muß er zu einer wirklichen Volksbewegungwerden, d. h. die breitesten Schichten des Proletariats mit in den Kampf ziehen. – Schon bei der parlamentarischen Form beruht die Macht des proletarischen Klassenkampfes nicht auf dem kleinen organisierten Kern, sondern auf der breiten, umliegenden Peripherie des revolutionär gesinnten Proletariats. Wollte die Sozialdemokratie bloß mit ihren paar hunderttausend Organisierten Wahlschlachten schlagen, dann würde sie sich selbst zur Nullität verurteilen. Und ist es auch eine Tendenz der Sozialdemokratie, womöglich fast den gesamten großen Heerbann ihrer Wähler in die Parteiorganisationen aufzunehmen, so wird doch nach 30jähriger Erfahrung der Sozialdemokratie nicht ihre Wählermasse durch das Wachstum der Parteiorganisation erweitert, sondern umgekehrt die durch den Wahlkampf jeweilig eroberten frischen Schichten der Arbeiterschaft bilden das Ackerfeld für die darauffolgende Organisationsaussaat. Auch hier liefert nicht nur die Organisation die Kampftruppen, sondern der Kampf liefert in noch größerem Maße die Rekrutiertruppen für die Organisation. In viel höherem Grade als auf den parlamentarischen Kampf bezieht sich dasselbe offenbar auf die direkte politische Massenaktion. Ist auch die Sozialdemokratie als organisierter Kern der Arbeiterklasse die führende Vordertruppe des gesamten arbeitenden Volkes und fließt auch die politische Klarheit, die Kraft, die Einheit

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/22&oldid=- (Version vom 29.6.2019)