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[40]      Und endlich das größte und wichtigste: das Landarbeiterelend. Wenn die englischen Gewerkschaften ausschließlich auf die Industriearbeiter zugeschnitten sind, so ist das bei dem spezifischen Charakter der englischen Nationalwirtschaft, bei der geringen Rolle der Landwirtschaft im Ganzen des ökonomischen Lebens eher eine begreifliche Erscheinung. In Deutschland wird eine gewerkschaftliche Organisation, und sei sie noch so glänzend ausgebaut, wenn sie lediglich die Industriearbeiter umfaßt und für das ganze große Heer der Landarbeiter unzugänglich ist, immer nur ein schwaches Teilbild der Lage des Proletariats im ganzen geben. Es wäre aber wiederum eine verhängnisvolle Illusion, zu glauben, daß die Zustände auf dem flachen Lande unveränderliche und unbewegliche seien, daß sowohl die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Sozialdemokratie wie noch mehr die ganze innere Klassenpolitik Deutschlands nicht beständig die äußere Passivität des Landarbeiters unterwühlen, und daß bei irgendeiner größeren allgemeinen Klassenaktion des deutschen Industrieproletariats, zu welchem Zweck sie auch unternommen sei, nicht auch das ländliche Proletariat in Aufruhr kommt. Dies kann sich aber ganz naturgemäß nicht anders als zunächst in einem allgemeinen stürmischen ökonomischen Kampf, in gewaltigen Massenstreiks der Landarbeiter äußern.

     So verschiebt sich das Bild der angeblichen wirtschaftlichen Überlegenheit des deutschen Proletariats über das russische ganz bedeutend, wenn wir den Blick von der Tabelle der gewerkschaftlich organisierten Industrie und Handwerksbranchen auf jene großen Gruppen des Proletariats richten, die ganz außerhalb des gewerkschaftlichen Kampfes stehen oder deren besondere wirtschaftliche Lage sich nicht in den engen Rahmen des alltäglichen gewerkschaftlichen Kleinkriegs hineinzwängen läßt. Wir sehen dann ein gewaltiges Gebiet nach dem anderen, wo die Zuspitzung der Gegensätze die äußerste Grenze erreicht hat, wo Zündstoff in Hülle und Fülle aufgehäuft ist, wo sehr viel „russischer Absolutismus“ in nacktester Form steckt und wo wirtschaftlich die allerelementarsten Abrechnungen mit dem Kapital erst nachzuholen sind.

     Alle diese alten Rechnungen würden dann bei einer allgemeinen politischen Massenaktion des Proletariats unvermeidlich dem herrschenden System präsentiert werden. Eine künstlich arrangierte einmalige Demonstration des städtischen Proletariats, eine bloß aus Disziplin und nach dem Taktstock eines Parteivorstandes ausgeführte Massenstreikaktion könnte freilich die breiteren Volksschichten kühl und gleichgültig lassen. Allein eine wirkliche, aus revolutionärer Situation geborene, kräftige und rücksichtslose Kampfaktion des Industrieproletariats müßte sicher auf tieferliegende Schichten zurückwirken und gerade alle diejenigen, die in normalen ruhigen Zeiten abseits des gewerkschaftlichen Tageskampfes stehen, in einen stürmischen allgemeinen ökonomischen Kampf mitreißen.

     Kommen wir aber auch auf die organisierten Vordertruppen des deutschen Industrieproletariats zurück und halten uns anderseits die heute von der russischen Arbeiterschaft verfochtenen Ziele des ökonomischen Kampfes vor die Augen, so finden wir durchaus [41] nicht, daß es Bestrebungen sind, auf die die deutschen ältesten Gewerkschaften Grund hätten wie auf ausgetretene Kinderschuhe über die Achsel zu schauen. So ist die wichtigste allgemeine Forderung der russischen Streiks seit dem 22. Januar 1905, der Achtstundentag, gewiß kein überwundener Standpunkt für das deutsche Proletariat, vielmehr in den allermeisten Fällen ein schönes fernes Ideal. Dasselbe trifft auf den Kampf mit dem „Hausherrnstandpunkt“ zu, auf den Kampf um die Einführung der Arbeiterausschüsse in allen Fabriken, um die Abschaffung der Akkordarbeit, um die Abschaffung der Heimarbeit im Handwerk, um völlige Durchführung der Sonntagsruhe, um Anerkennung des Koalitionsrechts. Ja, bei näherem Zusehen sind sämtliche ökonomischen Kampfobjekte des russischen Proletariats in der jetzigen Revolution auch für das deutsche Proletariat höchst aktuell und berühren lauter wunde Stellen des Arbeiterdaseins.

     Daraus ergibt sich vor allem, daß der reine politische Massenstreik, mit dem man vorzugsweise operiert, auch für Deutschland ein bloßes lebloses theoretisches Schema ist. Werden die Massenstreiks aus einer starken revolutionären Gärung sich auf natürlichem Wege als ein entschlossener politischer Kampf der städtischen Arbeiterschaft ergeben, so werden sie ebenso natürlich, genau wie in Rußland, in eine ganze Periode elementarer ökonomischer Kämpfe umschlagen. Die Befürchtungen also der Gewerkschaftsführer, als könnte der Kampf um die ökonomischen Interessen in einer Periode stürmischer politischer Kämpfe, in einer Periode der Massenstreiks, einfach auf die Seite geschoben und erdrückt werden, beruhen auf einer ganz in der Luft schwebenden schulmäßigen Vorstellung von dem Gang der Dinge. Eine revolutionäre Periode würde vielmehr auch in Deutschland den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes ändern und ihn dermaßen potenzieren, daß der heutige Guerillakrieg der Gewerkschaften dagegen ein Kinderspiel sein wird. Und anderseits würde aus diesem elementaren ökonomischen Massenstreikgewitter auch der politische Kampf immer wieder neue Anstöße und frische Kräfte schöpfen. Die Wechselwirkung zwischen ökonomischem und politischem Kampf, die die innere Triebfeder der heutigen Massenstreiks in Rußland und zugleich sozusagen den regulierenden Mechanismus der revolutionären Aktion des Proletariats bildet, würde sich ebenso naturgemäß auch in Deutschland aus den Verhältnissen selbst ergeben.

VI.

     Im Zusammenhang damit bekommt auch die Frage von der Organisation in ihrem Verhältnis zum Problem des Massenstreiks in Deutschland ein wesentlich anderes Gesicht.
     Die Stellung mancher Gewerkschaftsführer zu der Frage erschöpft sich gewöhnlich in der Behauptung: „Wir sind noch nicht stark genug, um eine so gewagte Kraftprobe wie einen Massenstreik zu riskieren.“ Nun ist dieser Standpunkt insofern ein unhaltbarer, weil es eine unlösbare Aufgabe ist, auf dem Wege einer ruhigen,

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/21&oldid=- (Version vom 29.6.2019)