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[34] die Massenstreiks nicht ganz vom Himmel. Sie müssen so oder anders von den Arbeitern gemacht werden. Der Entschluß und Beschluß der Arbeiterschaft spielt auch dabei eine Rolle, und zwar kommt die Initiative sowie die weitere Leitung natürlich dem organisierten und aufgeklärtesten sozialdemokratischen Kern des Proletariats zu. Allein diese Initiative und diese Leitung haben einen Spielraum meistens nur in Anwendung auf die einzelnen Akte, einzelnen Streiks, wenn die revolutionäre Periode bereits vorhanden ist, und zwar meistens in den Grenzen einer einzelnen Stadt. So hat z.B., wie wir gesehen, die Sozialdemokratie mehrmals direkt die Losung zum Massenstreik in Baku, in Warschau, in Lodz, in Petersburg mit Erfolg gegeben. Dasselbe gelingt schon viel weniger in Anwendung auf allgemeine Bewegungen des gesamten Proletariats. Ferner sind dabei der Initiative und der bewußten Leitung ganz bestimmte Schranken gesteckt. Gerade während der Revolution ist es für irgendein leitendes Organ der proletarischen Bewegung äußerst schwer, vorauszusehen und zu berechnen, welcher Anlaß und welche Momente zu Explosionen führen können und welche nicht. Auch hier besteht die Initiative und Leitung nicht in dem Kommandieren aus freien Stücken, sondern in der möglichst geschickten Anpassung an die Situation und möglichst engen Fühlung mit den Stimmungen der Masse. Das Element des Spontanen spielt, wie wir gesehen, in allen russischen Massenstreiks ohne Ausnahme eine große Rolle, sei es als treibendes oder als hemmendes Element. Dies rührt aber nicht daher, weil in Rußland die Sozialdemokratie noch jung oder schwach ist, sondern daher, weil bei jedem einzelnen Akt des Kampfes so viele unübersehbare ökonomische, politische und soziale, allgemeine und lokale, materielle und psychische Momente mitwirken, daß kein einziger Akt sich wie ein Rechenexempel bestimmen und abwickeln läßt. Die Revolution ist, auch wenn in ihr das Proletariat mit der Sozialdemokratie an der Spitze die führende Rolle spielt, nicht ein Manöver des Proletariats im freien Felde, sondern es ist ein Kampf mitten im unaufhörlichen Krachen, Zerbröckeln, Verschieben aller sozialen Fundamente. Kurz, in den Massenstreiks in Rußland spielt das Element des Spontanen eine so vorherrschende Rolle, nicht weil das russische Proletariat „ungeschult“ ist, sondern weil sich Revolutionen nicht schulmeistern lassen.
     Anderseits aber sehen wir in Rußland, daß dieselbe Revolution, die der Sozialdemokratie das Kommando über den Massenstreik so sehr erschwert und ihr alle Augenblicke launig das Dirigentenstöckchen aus der Hand schlägt oder in die Hand drückt, daß sie dafür selbst gerade alle jene Schwierigkeiten der Massenstreiks löst, die im theoretischen Schema der deutschen Diskussion als die Hauptsorgen der „Leitung“ behandelt werden: die Frage der „Verproviantierung“, der „Kostendeckung“ und der „Opfer“. Freilich, sie löst sie durchaus nicht in dem Sinne, wie man es bei einer ruhigen, vertraulichen Konferenz zwischen den leitenden Oberinstanzen der Arbeiterbewegung mit dem Bleistift in der Hand regelt. Die „Regelung“ all dieser Fragen besteht darin, daß die Revolution eben so enorme Volksmassen [35] auf die Bühne bringt, daß jede Berechnung und Regelung der Kosten ihrer Bewegung, wie man die Kosten eines Zivilprozesses im voraus aufzeichnet, als ein ganz hoffnungsloses Unternehmen erscheint. Gewiß suchen auch die leitenden Organisationen in Rußland die direkten Opfer des Kampfes nach Kräften zu unterstützen. So wurden z.B. die tapferen Opfer der Riesenaussperrung in Petersburg infolge der Achtstundenkampagne wochenlang unterstützt. Allein alle diese Maßnahmen sind in der enormen Bilanz der Revolution ein Tropfen im Meere. Mit dem Augenblick, wo eine wirkliche, ernste Massenstreikperiode beginnt, verwandeln sich alle „Kostenberechnungen“ in das Vorhaben, den Ozean mit einem Wasserglas auszuschöpfen. Es ist nämlich ein Ozean furchtbarer Entbehrungen und Leiden, durch den jede Revolution für die Proletariermasse erkauft wird. Und die Lösung, die eine revolutionäre Periode dieser scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeit gibt, besteht darin, daß sie zugleich eine so gewaltige Summe von Massenidealismus auslöst, bei der die Masse gegen die schärfsten Leiden unempfindlich wird. Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers, der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einläßt, bevor ihm eine genau bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Maßregelung im voraus zugesichert wird, läßt sich weder Revolution noch Massenstreik machen. Aber im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen „Revolutionsromantiker“, für den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das materielle Wohlsein im Vergleich mit den Kampfidealen geringen Wert besitzt.

     Wenn aber die Leitung der Massenstreiks im Sinne des Kommandos über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und Deckung ihrer Kosten Sache der revolutionären Periode selbst ist, so kommt dafür die Leitung bei Massenstreiks in einem ganz anderen Sinne der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen zu. Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus der Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen. Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, daß in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommt, daß die Taktik der Sozialdemokratie nach ihrer Entschlossenheit und Schärfe nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt, das ist die wichtigste Aufgabe der „Leitung“ in der Periode der Massenstreiks. Und diese Leitung schlägt von selbst gewissermaßen in technische Leitung um. Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend.

Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/18&oldid=- (Version vom 29.6.2019)