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[24] Das Statut wurde ausgearbeitet, aber es gelang vorläufig weder es zu drucken noch eine allgemeine Versammlung einzuberufen.“

     Das waren die ersten schweren Anfänge. Dann kamen die Oktobertage, der zweite allgemeine Generalstreik, das Zarenmanifest des 30. Oktober und die kurze „Verfassungsperiode“. Mit Feuereifer stürzen sich die Arbeiter in die Wogen der politischen Freiheit, um sie sofort zum Organisationswerk zu benutzen. Neben tagtäglichen politischen Versammlungen, Debatten, Vereinsgründungen wird sofort der Ausbau der Gewerkschaften in Angriff genommen. Im Oktober und November entstehen in Petersburg vierzig neue Gewerkschaften. Alsbald wird ein „Zentralbureau“, d. h. ein Gewerkschaftskartell, gegründet, es erscheinen verschiedene Gewerkschaftsblätter und seit dem November auch ein Zentralorgan: „Die Gewerkschaft“. Das, was im obigen über Petersburg berichtet wurde, trifft im großen und ganzen auf Moskau und Odessa, Kijew und Nikolajew, Saratow und Woronesch, Samara und Nischni Nowgorod, auf alle größeren Städte Rußlands und in noch höherem Grade auf Polen zu. Die Gewerkschaften einzelner Städte suchen Fühlung miteinander, es werden Konferenzen abgehalten. Das Ende der „Verfassungsperiode“ und die Umkehr zur Reaktion im Dezember 1905 macht zeitweilig auch ein Ende der offenen, breiten Tätigkeit der Gewerkschaften, bläst ihnen aber das Lebenslicht nicht aus. Sie wirken weiter im geheimen als Organisation und führen gleichzeitig ganz offen Lohnkämpfe. Es bildet sich ein eigenartiges Gemisch eines gesetzlichen und ungesetzlichen Zustandes des Gewerkschaftslebens aus, entsprechend der widerspruchsvollen revolutionären Situation. Aber mitten im Kampf wird das Organisationswerk mit aller Gründlichkeit, ja mit Pedanterie weiter ausgebaut. Die Gewerkschaften der Sozialdemokratie Polens und Litauens z. B., die auf dem letzten Parteitag (im Juli 1906) durch fünf Delegierte von 10000 zahlenden Mitgliedern vertreten waren, sind mit ordentlichen Statuten, gedruckten Mitgliedsbüchlein, Klebemarken usw. versehen. Und dieselben Warschauer und Lodzer Bäcker und Schuhmacher, Metallarbeiter und Buchdrucker, die im Juni 1905 auf den Barrikaden standen und im Dezember nur auf eine Parole aus Petersburg zum Straßenkampf warteten, finden zwischen einem Massenstreik und dem anderen, zwischen Gefängnis und Aussperrung, unter dem Belagerungszustand Muße und heiligen Ernst, um ihre Gewerkschaftsstatuten eingehend und aufmerksam zu diskutieren. Ja, diese gestrigen und morgigen Barrikadenkämpfer haben mehr als einmal in Versammlungen ihren Leitern unbarmherzig den Kopf gewaschen und mit dem Austritt aus der Partei gedroht, weil die unglücklichen gewerkschaftlichen Mitgliedsbüchlein nicht rasch genug – in geheimen Druckereien unter unaufhörlicher polizeilicher Hetzjagd – gedruckt werden konnten. Dieser Eifer und dieser Ernst dauern bis zur Stunde fort. In den ersten zwei Wochen des Juli 1906 sind z. B. in Jekaterinoslaw 15 neue Gewerkschaften entstanden: in Kostroma 6 Gewerkschaften, mehrere in Kijew, Poltawa, Smolensk, Tscherkassy, Proskurow – bis in die kleinsten Provinznester. In der Sitzung des Moskauer Gewerkschaftskartells vom 4. Juni d.J. [25] wurde nach Entgegennahme der Berichte einzelner Gewerkschaftsdelegierter beschlossen: „Daß die Gewerkschaften ihre Mitglieder disziplinieren und von Straßenkrawallen zurückhalten sollen, weil der Moment für den Massenstreik als ungeeignet betrachtet wird. Angesichts möglicher Provokationen der Regierung sollen sie achtgeben, daß die Masse nicht auf die Straße hinausströmt. Endlich beschloß das Kartell, daß in der Zeit, wo eine Gewerkschaft einen Streik führt, die anderen sich von Lohnbewegungen zurückzuhalten haben.“ Die meisten ökonomischen Kämpfe werden jetzt von den Gewerkschaften geleitet.[1]

     So hat der vom Januar Generalstreik ausgehende große ökonomische Kampf, der von da an bis auf den heutigen Tag nicht aufhört, einen breiten Hintergrund der Revolution gebildet, aus dem sich in unaufhörlicher Wechselwirkung mit der politischen Agitation und den äußeren Ereignissen der Revolution immer wieder bald hier und da einzelne Explosionen, bald allgemeine, große Hauptaktionen des Proletariats erheben. So flammen auf diesem Hintergrund nacheinander auf: am 1. Mai 1905 zur Maifeier ein beispielloser absoluter Generalstreik in Warschau mit einer völlig friedlichen Massendemonstration, die in einem blutigen Renkontre der wehrlosen Menge mit den Soldaten endet. Im Juni führt in Lodz ein Massenausflug, der von Soldaten zerstreut wird, zu einer Demonstration von 100000 Arbeitern auf dem Begräbnis einiger Opfer der Soldateska, zu erneutem Renkontre mit dem Militär und schließlich zum Generalstreik, der am 23., 24. und 25. in den ersten Barrikadenkampf im Zarenreiche übergeht. Im Juni gleichfalls explodiert im Odessaer Hafen aus einem kleinen Zwischenfall an Bord des Panzerschiffes „Potemkin“ die erste große Matrosenrevolte der Schwarzmeerflotte, die sofort als Rückwirkung in Odessa und Nikolajew einen gewaltigen Massenstreik hervorruft. Als weiteres Echo folgen: der Massenstreik und Matrosenrevolten in Kronstadt, Libau, Wladiwostok.

Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/13&oldid=- (Version vom 29.6.2019)
  1. In den zwei ersten Wochen des Juni 1906 allein wurden folgende Lohnkämpfe geführt: bei den Buchdruckern in Petersburg, Moskau, Odessa, Minsk, Wilna, Saratow, Mogiljow, Tambow um den Achtstundentag und die Sonntagsruhe; ein Generalstreik der Seeleute in Odessa, Nikolajew, Kertsch, Krim, Kaukasus, auf der WolgaFlotte, in Kronstadt, in Warschau und Plock um die Anerkennung der Gewerkschaft und Freilassung der verhafteten Arbeiterdelegierten; bei den Hafenarbeitern in Saratow, Nikolajew, Zarizyn, Archangel, Nishni Nowgorod, Rybinsk. Die Bäcker streikten in Kijew, Archangel, Bialystok, Wilna, Odessa, Charkow, BrestLitowsk, Radom, Tiflis; die Landarbeiter in den Distrikten Werchne Dneprowsk, Borissowsk, Simferopol, in den Gouvernements Podolsk, Tula, Kursk, in den Distrikten Koslow, Lipowetz, in Finnland, im Gouvernement Kijew, im Jelissawetgrader Distrikt. In mehreren Städten streikten in dieser Periode gleichzeitig fast sämtliche Gewerbezweige, so in Saratow, Archangel, Kertsch, Krementschug. In Bachmut gab es einen Generalstreik der Kohlenarbeiter des ganzen Reviers. In anderen Städten ergriff die Lohnbewegung binnen der erwähnten zwei Wochen nacheinander alle Gewerbezweige, so in Kijew, Petersburg, Warschau, Moskau, im ganzen Rayon Iwvanowo Wosnesensk. Zweck der Streiks überall: Verkürzung der Arbeitszeit, Sonntagsruhe, Lohnforderungen. Die meisten Streiks verliefen siegreich. Es wird in den lokalen Berichten hervorgehoben, daß sie zum Teil Arbeiterschichten ergriffen, die sich zum ersten Male an einer Lohnbewegung beteiligten.