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4.
Schneeweißchen und Rosenroth.

Eine arme Wittwe lebte in einem kleinen Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, wovon das eine weiße und das andere rothe Rosen trug. Und sie hatte zwei Kinder, die glichen den Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen und das andere Rosenroth. Sie waren aber beide so fromm und so gut, so arbeitsam und unverdrossen, als noch jemals zwei Kinder auf der Welt gewesen sind. Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenroth; das sprang lieber in den Wiesen und Feldern nach Blumen und Sommervögeln, während Schneeweißchen daheim bei der Mutter saß, und ihr etwas vorlas, oder ihr im Hauswesen half. Sie hatten aber doch einander sich so lieb, daß, wenn sie zusammen gingen, sie sich an den Händen faßten, und sagten: „Wir wollen uns niemals verlassen!“ Und die Mutter sprach dann: „Was die Eine hat, das soll sie mit der Andern theilen.“

Oft waren sie allein im Walde, wenn sie rothe Beeren sammelten; aber kein Thier that ihnen etwas zu Leide, sondern war ganz vertraulich mit ihnen. Manches Häschen nahm ein Kohlblatt aus ihren Händen, das sie ihm mitgetheilt hatten, und manches Rehkälbchen kam, und wollte bei ihnen grasen. Kein Unfall betraf sie, und wenn sie sich verspäteten, und die Nacht sie überfiel, so faßten sie sich einander an, und schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das, und hatte keine Sorge um sie.

Einmal, als sie so im Walde erwachten, sahen sie ein fremdes, schönes Kind, schneeweiß gekleidet, das sich vor sie hingesetzt hatte, damit sie in der Dunkelheit ja keinen Schritt weiter thäten, weil sie sonst in einen Abgrund hinabgefallen