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„Der Reif in sich’rer Tiefe ruht, –
Zeig’ erst noch größern Opfermut,
Gib mir von deinem Herzensblut.“

Als die Nixe untertauchend, im nächsten Augenblick den Goldreif verlockend emporhielt, ergriff Frau Irmela entschlossen eine der langen Nadeln, um sie in ihr Herz zu stoßen.

Doch in diesem Augenblick höchster Lebensgefahr wurde ihre Hand von der starken Hand der Treue ergriffen und abgelenkt. So stach sich Stiefmütterchen nur in die Hand, und einige rote Blutstropfen fielen ins Wasser. Der Nixe Macht war gebrochen. Sie war im Wasser verschwunden; am Ufer aber lag der Goldreif. –

Die Untreue hatte mit ihrem Irrlicht den nächtlichen Wald kreuz und quer durchwandert und war gerade von fern Zeugin gewesen, als Stiefmütterchens Nadel das Herz suchte.

Triumphierend, mit schadenfrohem Gelächter war sie ihrer Behausung zugeeilt, wähnend, daß die ihr unbequeme Frau ein Opfer ihres Wagemutes geworden wäre. Sie rüttelte die Kinder unsanft aus dem Schlaf und schrie ihnen zu: „Eure Mutter gab der Nixe ihr Herzblut, sie ist tot, darum wartet nicht mehr auf Erlösung, sondern beginnt euer Tagewerk.“

Rainer und Sitta weinten bitterlich, als sie solches vernahmen, und schluchzten: „Wir sind an allem schuld!“

Aber kaum hatten sie also geklagt, als Stiefmütterchen, von der Treue geführt, über die Schwelle trat. Noch bleich und mit abgeschnittenem Haar erschien Frau Irmela ihnen fremd, aber da blickten schon ihre gütigen Augen tief in die Kinderherzen hinein, während ihre Arme die reuig Schluchzenden umschlangen, und ihr Mund flüsterte: „Habt mich lieb, Kinder, seht, ich habe euch erlöst.“

Dann trat sie festen Schrittes zu der gelben Frau, reichte ihr den Goldreif und sprach: „Ich hielt mein Wort; nun halte du das deine.“

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_133.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)