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Frau Irmela hörte erbleichend, daß diese trotz der besten Vorsätze in die Hände der Untreue gefallen seien, und sagte schnell, daß sie die Kinder befreien wolle, wenn sie nur den Weg zu deren Aufenthaltsort wüßte.

Da erzählte die Treue ihr die Geschichte ihrer einstigen Pflegeschwester, wie sie die Kinder von der Untreue selbst erfahren hatten; nur daß sie noch berichtete, wie ihnen, die man beide die „Treue“ nannte, einst der gelbe Neid begegnet sei, dessen bösen Einflüsterungen es gelang, die andere ihrer Pflicht abwendig zu machen.

Während beide Frauen so durch den Wald dahinschritten empfand Frau Irmela deutlich, wie die Nähe ihrer holden Begleiterin ihr neuen Mut und neue Kräfte verlieh, so daß alles Zagen von ihr gewichen war, als die Treue stehen blieb und, auf das eben erreichte, vom letzten Abendschein beleuchtete Haus der Untreue deutend, also sprach:

„Ueber dieses Hauses Schwelle
Mußt du ungeleitet schreiten,
Auch allein, Stiefmütterchen,
Sei getrost, ich harre dein.
Kann dir doch vielleicht noch nützen,
Du getreue, zweite Mutter,
Ob auch Untreu’ Schlimmes sinnt:
Sei getrost, Stiefmütterchen!

Frau Irmela stieg mit erwartungsvollem Herzklopfen, aber doch von froher Zuversicht erfüllt, die Zickzacktreppe hinan.

Da trat ihr die gelbe Untreue hämisch lächelnd entgegen. Frau Irmela fragte nach den Kindern.

„Ha, ha, ha, eine Stiefmutter will ihre nichtsnutzigen Stiefkinder erlösen,“ gellte die höhnische Entgegnung so laut, daß Rainer und Sitta sie deutlich vernahmen und herbeieilten, um zu Frau Irmela zu flüchten.

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_128.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)