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„Doch,“ nickte Rainer, „mein Schwesterchen, aber ich verlor es aus den Augen und suche es eben.“

„Ei, das trifft sich gut,“ ließ die Frau sich vernehmen, „ich sah das Kind und will dich zu ihm führen.“

Sie nahm einfach den Knaben bei der Hand, ihn mit sich ziehend, und er folgte, da er das Schwesterchen doch wiederfinden mußte.

Freilich, so weich und warm wie die Hand der Treue war die seiner Führerin nicht; ihre Finger waren knochig, und an ihrem Arm glänzte auch kein so schöner Goldreif, als die Treue ihn trug. Doch das war ja Nebensache; wenn die Frau ihn nur wieder zu Sitta führte, so mochte der Druck ihrer Finger ihn schmerzen, ihm galt es gleich.

Und wirklich! Da, – als beide um einen Felsblock bogen, kam Sitta, verweint, aber noch ihr Band haltend, daher, geführt von der guten Taube. Glückselig ob des Wiederfindens umarmten sich die Geschwister, aber selbst jetzt hielt die Kleine ihr Band sorglich fest. Dann erst gewahrte sie Rainers Begleiterin, die einige Schritte zurückgeblieben war und mit eigentümlichem Gesichtsausdruck die kleine Szene beobachtet hatte.

Auch Sitta fühlte bei ihrem Anblick ein rätselhaftes Unbehagen, doch das kostbare Seidenkleid flößte ihr trotzdem Bewunderung ein, und als die Fremde auch sie fragte, wohin sie wolle, antwortete sie freundlicher, als vorhin der Bruder.

„Also nach Hause wollt ihr, Kinder, wirklich? Ei, ei, – und fürchtet euch nicht vor Strafe?“

„Weißt du denn, warum wir fortgelaufen sind?“ fragte Rainer erstaunt, denn er hatte dieser Frau kein Wort davon erzählt. Ob sie auch so allwissend war wie die andere im blauen Gewande?

„Freilich weiß ich das; ich sah zufällig durchs Fenster, als ihr das Gefäß zerbrochen hattet, und hörte recht gut, was eure Kinderfrau sagte.“

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_120.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)