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Sie ermahnte die Geschwister noch, die Bänder nicht loszulassen, denn wenn sie ihnen etwa in tändelndem Spiel entglitten, mußte Täubchen in ihr Schloß zurückfliegen und durfte sie nicht weiter führen. Dann sei sie, die Treue, machtlos, ihnen weiteren Schutz zu gewähren.

Alles gut zu beachten, versprachen die beiden, und wenn sie, als sie eilig dem Täubchen folgten, wirklich einmal stehen blieben, um einen Falter, eine schöne Blume oder was es sonst war, zu betrachten, so brauchte Täubchen nur zu rufen:

„Krrruh – kurruh –
Kinder lauft zu!“

und die Ermahnten folgten diesem Ruf.

Ein gutes Stück Weges hatten die beiden zurückgelegt, denn trotzdem es zu dämmern begann, leuchtete Täubchens Gefieder gar hell vor ihnen her, selbst die Bänder schienen sich in durchsichtige Strahlen zu verwandeln. Das machte den kleinen Wanderern Spaß. Sie schlangen spielend den leuchtenden Schmuck um Hände und Arme, daß Täubchens Mahnung öfters nötig wurde; aber beide hielten wenigstens ihre Bänder fest.

Doch jetzt lief ein wunderschöner Käfer gerade vor Rainer quer über den Weg, daß der Knabe sich neugierig bückte, denn einen so eigenartigen Sechsfüßler hatte er noch nie gesehen. Das Tier glich einem Hirschkäfer, war aber ganz gelb und glänzte dabei, als sei er aus Gold.

Rainer konnte sich an dem prächtigen Tiere nicht satt sehen, er versuchte, es zu fangen, doch aalglatt entglitt es seiner Hand, geschwind weiter laufend.

Er folgte in hastigen Schritten; der Eifrige schien für alles taub.

Vergebens mahnte Täubchen, vergebens flehte Sitta: er hielt zwar das Band fest, lief aber immer noch dem kleinen Waldwunder nach, bis dieses plötzlich verschwunden war.

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)