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verwaisten Kindern eine zweite Mutter zu werden, um diesen alle Liebe zu geben, die sie der Beweinten noch schuldig geblieben war.

Irmela war zu einer schönen Jungfrau erblüht, der viele Freier nahten, ohne daß sie bisher einem ihr Jawort zu geben vermochte, denn in ihrem Herzen lebte immer noch der Wunsch aus ihrer Kinderzeit.

Da kam eines Tages ein Bewerber um ihre Hand, dessen Gemahlin gestorben war. Dieser bat sie inständig, seine zweite Gemahlin zu werden, da er sich so einsam fühle und vor allem seine beiden Kinder der Mutter entbehrten.

Da willigte die Jungfrau ein, beglückt, daß ihr Wunsch sich erfüllen sollte. O, diese Kinder, die sie noch nicht kannte, wollte sie mit ihrem ganzen Herzen lieben, wollte ihnen eine gute, treue Mutter werden.

Die Hochzeit ward gefeiert, und das nunmehrige Stiefmütterchen war auf dem Wege zum neuen Heim.

Man durchritt das letzte Stück Wald, als Stiefmütterchens Gemahl plötzlich in die Ferne deutend sagte: „Dort kommen Rainer und Sitta, unsere beiden Kinder. Wohin mögen sie wollen? Sollten sie so ganz allein zu unserem Empfang herbeieilen?“ Da bat Stiefmütterchen: „Laß mich ihnen entgegengehen, mein Gemahl, indessen du uns hier erwartest.“

Der Vater willigte ein. So wandelte die schöne, junge Frau den beiden entgegen, die Hand in Hand daherschritten.

Der ältere Knabe pflückte dem jüngeren Schwesterchen Blumen und schien sich überhaupt als ihren Beschützer zu betrachten, da er den Arm um ihren Hals legte und Sitta sich ängstlich an den Bruder schmiegte, als die hohe Frauengestalt plötzlich vor ihnen auftauchte. Vier Blauaugen blickten zu der Unbekannten auf, die, ihre Hände auf die blonden Scheitel legend, fragte: „Liebe Kinder, ihr kommt ganz allein durch den Wald, wohin wolltet ihr?“

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_110.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)