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Ehe der Jüngling aber diese letzte Fessel der armen Jungfrauen löste, rief er dem Falken, der noch immer draußen am Fenster saß, zu:

„Mein Bruder, warn’ die Falken alle,
Daß keiner aus der Höhe falle.
Such’ jeder schnell sich festen Grund,
Denn jetzo naht die Rettungsstund’.“

Mit lautem Freudenschrei flog der Falke eilends davon, um den Auftrag auszuführen, indessen Immo sich ritterlich vor den Königstöchtern verneigte, die mit züchtig niedergeschlagenen Augen vor ihm standen.

Sie waren beide sehr schön. Die Aelteste, Edelgarde, die dem Falken erst voll Mitleid nachgeblickt hatte, war vielleicht die Schönste; dennoch hafteten Immos Blicke an der jüngeren Schwester, Irmtraute, weil der Ausdruck ihres Antlitzes besonders große Herzensgüte zeigte. Jetzt sprach er:

„Edle Jungfrauen! Als euer Retter nahe ich euch. Vergebt mir, daß ich hier eingedrungen bin und euch vielleicht erschreckt habe, anstatt, wie es euerm Range entsprach, mich zuvor bei euch anmelden zu lassen. Doch“, fuhr der Prinz lächelnd in seiner Rede fort, „woher sollte ich eine Dienerin oder einen Pagen nehmen? Alles ist verzaubert, wie ihr wißt, und so mußtet ihr mit der Botschaft eines Falken vorlieb nehmen, der, wie ich glaube, seines selbstgewählten Amtes zu eurer Zufriedenheit gewaltet hat. Und nun will ich eure Fesseln zertrennen, damit euch und den Falken Freiheit und Erlösung zuteil werde.“

Doch ehe Immo noch zum Zauberschwert griff, um die Stricke zu zerschneiden, gewahrte er Springmännchen an seiner Seite, der ihm zuwinkte und nach der üblichen Vorbereitung also sprach:

Empfohlene Zitierweise:
Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_105.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)