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wo diese Heimat, wo das Schloß ihrer Mutter lag. Doch schon wieder ward die Kranke unruhig, wieder bewegten sich ihre Lippen, und sie rief ängstlich bittend:

„Bringt mir Harfe ‚Klingehold‘!
Ihre Saiten sind von Gold;
Weiße Mutterhände gleiten
Ueber diese goldnen Saiten –
Lind und hold wie Aeolsklang.
Mutter, wie ist mir so bang!“

Die Aerzte erklärten, daß diese Fieberphantasien auf Heimweh zurückzuführen seien.

In seiner Angst begab sich der König zu einem Einsiedler, von dem man allerlei Seltsames munkelte. Man sagte, er stiege des Nachts auf einen hohen Felsen, um mit den Sternen Zwiesprache zu halten, und er wisse allerlei Zaubermittel.

Der Alte, der in einer Felshöhle hauste, saß gerade vor einem mächtigen Buche, dessen Seiten mit geheimnisvollen Schriftzeichen bedeckt waren. Sein Gesicht war alt und runzlig, es erschien dem König wie Pergament; aber die von buschigen Augenbrauen fast verdeckten Augen blickten lebhaft und nicht unfreundlich auf den Ankömmling, dessen bekümmerte Miene dem Einsiedler nicht entging. Er winkte dem König, sich auf dem einzigen, mit einem Bärenfell bedeckten Ruhesitz niederzulassen, indem er sprach:

„Durch zerklüftet Felsgestein
Drangest du zu mir herein.
Wolltest wohl dein Leid mir klagen,
Deines Herzens Zittern, Zagen?
Königsburg ist nicht gefeit
Vor des Lebens Gram und Leid.“

Der König entgegnete: „Wie, selbst in deine Wildnis drang schon die Kunde von meiner Gemahlin Erkrankung?“

Empfohlene Zitierweise:
Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_009.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)