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54. Lycinus. Ey, Freund Hermotimus, das nenne ich nun doch einmal einen haltbaren Satz: aus einigen Theilen soll man das Ganze erkennen! Ich habe immer das Gegentheil sagen hören, wer das Ganze kennt, kenne auch die Theile, nicht aber umgekehrt. Sage mir also doch, im Fall dein Phidias in seinem Leben keinen Löwen gesehen hätte, wie könnte er wissen, daß die Klaue, die er sieht, einem Löwen angehört? Wiederum, wenn Einer nicht wüßte, wie ein Mensch aussieht, wie könnte er beim Anblick einer bloßen Hand sagen, daß es die Hand eines Menschen sey? – Du weißt mir nichts zu antworten? Nun so will ich es für dich thun. Allein ich kann nicht helfen, dein Phidias wird sammt seinem Löwen unverrichteter Sache wieder abziehen müssen: denn glaube mir, bester Junge, du hast mit diesem Beispiele nichts gesagt, was hieher gehörte. Siehe selbst, wie verschieden dieser Fall von dem unsrigen ist. In den beiden von dir angeführten Beispielen war das Schließen von dem Theile auf das Ganze bloß dadurch möglich, daß den Schließenden das Ganze, der Löwe und der Mensch, schon bekannt war. In einer Philosophie aber, z. B. in der Stoischen, wie kannst du aus einem einzelnen Theile auch alle übrigen richtig erkennen, oder sie für schön erklären, da du ja das Ganze noch nicht kennst, von welchem jenes bloß ein Theil ist?

55. Was aber deine so eben gemachte Behauptung betrifft, daß es ein Leichtes sey, die Hauptsätze jeder einzelnen Philosophie in wenigen Stunden sich vortragen zu lassen, so gebe ich gerne zu, daß es wenig Zeit und Mühe kostet, zu lernen, was jede Schule für Grundursachen und Endzwecke

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Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_0567.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)