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zu nehmen und stehen erstaunt vor einer fülle an details, die uns der tag vorenthalten hat. Und da sehen wir die wiener dächer, sehen sie zum ersten male, und wundern uns, daß wir sie bei tag übersehen konnten.

Aber die wiener architekten überließen das dach ganz dem zimmermann. Mit dem hauptgesimse war die arbeit abgeschlossen. Paläste erhielten wohl eine attika mit vasen und figuren darauf. Der bürger verzichtete auch auf diese.

Fünf minuten von Wien entfernt, nach überschreitung des glacis, des heutigen ringes, gab es „das dach“. Dieselben architekten, die in Wien keine dächer zeichneten, waren voll geist und erfindung, wenn es sich um die dächer und kuppeln eines hauses oder palastes in der vorstadt handelte. Ich zeige dies nur auf, um zu beweisen, daß die alten wiener baukünstler den baucharakter eines ortes ins kalkül zogen und bewußt alles vermieden, was diesen stören konnte.

Ich klage unsere heutigen architekten an, daß sie bewußt dem baucharakter nicht rechnung tragen. Noch der bau der ringstraße hat sich der stadt angepaßt. Wenn aber die ringstraße heute gebaut würde, besäßen wir keine ringstraße, sondern eine architektonische katastrophe.

Wienerisch ist der gerade gesimsabschluß, ohne dächer, kuppel, erker und andere aufbauten. Das baugesetz spricht von einer höhe von 25 metern bis zur oberkante des hauptgesimses. Aber das dach soll ausgenützt werden und ateliers und andere vermietbare räume beherbergen. Denn der grund kostet viel geld und die steuern sind hoch. Dieser finanziellen frage wegen ging der alte wiener baucharakter verloren. Ich wüßte schon ein mittel,

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Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/298&oldid=- (Version vom 1.8.2018)