Ich erhielt folgende zuschrift: Darf ich mich bei ihnen mit einem kleinen beitrag einfinden? Ja? – So hören sie. Ich habe einen jungen. Acht jahre alt. Ein ganz prächtiger kerl. Aber seine unarten hat er doch auch. So zeigte er immer mit der hand auf leute, die ihm auffielen oder von denen er sprach, oder von denen er wissen wollte, wer sie seien. Ich gab ihm jedesmal einen klaps. „Das darf man nicht“, sagte ich. Und er ließ von dieser unart ab. Neulich zeigt er aber wieder mit der hand auf einen herrn und fragt: „Wer ist denn das, papa?“ Natürlich hatte er sofort wieder seinen klaps. Da aber sieht er mich sehr mitleidig an, kramt aus seiner tasche einen zerknitterten zettel, den ich als einen zeitungsausschnitt erkenne, und hält mir ihn vor die nase. Ich lese: „Kaiser Wilhelm musterte das publikum im ersten zwischenakte, ohne ein opernglas zu benützen. Er sah ernst und beinahe streng drein und schien sich bei unserem kaiser wiederholt nach einzelnen persönlichkeiten zu erkundigen, nach denen er mit der ausgestreckten hand zeigte.“!! Das stand buchstäblich in der „zeit“, nr. 349 vom 19. september 1903. Und ich? Was sollte ich tun ? Was soll ich überhaupt tun? Denn jetzt verfangen die klapse nicht mehr. Jetzt sind sie ein unrecht, das ich an meinem jungen oder am deutschen kaiser begehe.
Ich möchte auf ein buch hinweisen, das in engster fühlung zu der frage steht, die ich unter der rubrik „Wie der staat für uns sorgt“ behandelt habe. Es ist dies Frank Wedekinds „frühlingserwachen“. Eine kindertragödie.
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/228&oldid=- (Version vom 1.8.2018)