vor zwei jahren, als sie eine europareise machte, auch gewesen.
Sie trug einen gefältelten kattunrock, eine weiße hemdbluse und eine weiße schürze. War eine bewegliche, alte, liebe, kinderlose frau mit gescheitelten haaren. Wir mußten uns zum essen hinsetzen, sie kochte und trug das oatmeal selbst auf. Dann gings aufs feld, onkel Ben aufzusuchen. Nach einer viertelstunde sahen wir einen alten mann im felde sitzen und zwiebeln ausreißen. Er trug hohe stiefel, eine zwilchhose, ein färbiges flanellhemd und einen hut, wie ihn bei uns die schwimmmeister tragen. Das war onkel Ben.
Vier wochen darauf starb mein cousin, der, der mich zu onkel Ben begleitet hatte, an typhus. Man erwartete alle verwandten meiner tante. Alle wollten vom lande hereinkommen, ihrem toten neffen die letzte ehre zu erweisen.
Zwei stunden vor dem begräbnisse bat man mich, in die stadt zu fahren und trauerflore zu besorgen.
Als ich mich in die pferdebahn setzte, um zurückzufahren, grüßte mich eine elegante ältere dame in trauer. Sie sprach mich an und ich war in verzweiflung. Denn ich glaubte zu wissen, daß sie mich verkannte, da ich während meines sechswöchigen aufenthaltes keinen menschen kennengelernt hatte. Und ich versuchte, ihr das mit meinen schwachen englischen Sprachkenntnissen mitzuteilen.
Aber sie redete weiter in mich hinein und schließlich – ja – bei gott, sie war es! Tante Anna! Die farmerin. Die amerikanische bauernfrau. Ich versuchte, mich mit dem hinweis auf ihre veränderte kleidung zu entschuldigen.
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/215&oldid=- (Version vom 1.8.2018)