Seite:Lewicky Die Ukraine 1915.pdf/14

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Bosnien und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn bildeten für die Russen in ihrer Balkanpolitik eine neue, zweifellos sehr empfindliche Niederlage. In der Donaumonarchie ist seit dem letztgenannten Vertrage dem Zarenreiche ein mächtiger Konkurrent entstanden, ein Konkurrent, welcher jede Erweiterung der Machtsphäre Rußlands im Süden Europas zu verhindern weiß. Allein der Traum des Zaren, nach dem Bosporus und den Dardanellen zu gelangen, ist keine vorübergehende politische Schimäre, sondern vielmehr eine reelle, in der internationalen Lage Rußlands begründete Bestrebung, die sich durch rein diplomatische Mittel kaum je beseitigen läßt. Professor Mitrofanow hat ja in einem kurz vor dem Ausbruch des Krieges in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienenen und viel bemerkten Artikel die wahre Grundlage der russischen Balkanbestrebungen mit voller Offenheit der politischen Welt vor Augen geführt. Rußland strebt nach Konstantinopel, weil es im freien Zugange zum Mittelländischen Meere durch die Meerengen, die jederzeit geschlossen werden können, und damit auch in seiner imperialistischen Politik viel zu sehr gehemmt wird. Allein in der Verwirklichung dieser weitreichenden Pläne hat Rußland, wie bereits bemerkt, in der Donaumonarchie einen ebenbürtigen Gegner und Konkurrenten gefunden: denn führt der Weg Rußlands über Bosporus und Dardanellen nach Kleinasien und darüber hinaus, so läuft der Weg der Donaumonarchie in derselben Richtung über Belgrad oder Mitrowitza nach Saloniki. Beide Wege laufen demnach parallel, ohne ihr Ziel – den Zugang zum Ägäischen und Mittelländischen Meere – vorderhand bei den obwaltenden politischen Verhältnissen erreichen zu können.

Es wird nun vorläufig von den Gegnern am Balkan nach Verbündeten gesucht, mit der nicht zu leugnenden Absicht, den Konkurrenten womöglich zu schwächen. Zu welchen Ergebnissen jedoch diese Konkurrenztaktik bis jetzt geführt hat, beweisen

Empfohlene Zitierweise:
Eugen Lewicky: Die Ukraine der Lebensnerv Rußlands (= Ernst Jäckh (Hg.): Der Deutsche Krieg, 33). Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart u. Berlin 1915, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lewicky_Die_Ukraine_1915.pdf/14&oldid=- (Version vom 24.2.2022)