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Wahnsinn Europa

Im Jahre 1902 wird in der italienischen Kleinstadt Cerignola ein Proletarier geboren, der di Modugno heißt. Erst Landarbeiter, dann Bauarbeiter, gleitet der klassenbewußte junge Mensch rasch in die Gewerkschaftspolitik; er wird mehrere Male verhaftet, das erstemal schon im Jahre 1921, also vor der Herrschaft der Fascisten, und als die ans Ruder kommen, lernt er ein Gefängnis nach dem andern kennen. Flieht im April 1927 aus Italien, denn es ist eine Flucht, die Italiener lassen ihn nicht heraus, ein Auslandspaß ist eine Gnade. Geht nach Frankreich, nach Luxemburg, arbeitet dort, geht wieder nach Frankreich und denkt: Italien, und hat eine Idee im Kopf: Italien. Denn in Italien sind Frau und Kind.

Nichts einfacher, als Frau und Kind nachkommen zu lassen? Das erlauben die Italiener nicht; Frau und Kind sind Geiseln für den Entflohenen, und überhaupt „hat der Italiener im Ausland nichts zu suchen“. Die Frau di Modugnos versucht es mit einer Wallfahrt nach Lourdes – man verweigert ihr dennoch den Paß. Sie bittet und beschwört die Behörden – man verweigert ihr den Paß.

Im Jahre 1927 macht di Modugno in Paris neue Anstrengungen. Das Spiel der Ämter beginnt von neuem. „Da müssen Sie erst …“ Gesuch; Beglaubigung des Gesuchs durch die französische Polizei; Beglaubigung der Beglaubigung durch das italienische Konsulat; Formulare, Gänge, Warten, Warten … und dabei ist nie zu vergessen, daß das ein Arbeiter in seiner Freizeit macht, daß er müde ist, unausgeschlafen,

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_045.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)