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dass die römische Litteratur der republikanischen Zeit zu Cicero als ihrem Gipfel aufstieg.

Cicero hat von griechischen Lehrern und in Griechenland gelernt, er hat Demosthenes als sein rednerisches Vorbild anerkannt, er hat seine technischen Erörterungen an die griechischen Begründer der Rhetorik angeknüpft, er hat seine philosophischen Schriften selbst als Nachbildungen bezeichnet. Wo ist seine Originalität?

Die Redekunst verlangt, um wahrhaft zu leben, einen lebendigen Staat von politischer Macht und freier innerer Bewegung. Für Griechenland hatte sie mit Demosthenes ihr natürliches Ende erreicht. Eine neue starke Entwicklung erfuhr sie wieder in Rom, zuerst aus eigenen Wurzeln, dann unter Einwirkung der griechischen Zeitströmungen, getragen von politischen Persönlichkeiten und beseelt vom Drange des Parteienkampfes um Macht und Existenz. Aber den Griechen war die Rede nicht nur ein Kampf- und Machtmittel, gesprochen für die Wirkung des Moments oder als Pamphlet ins Publikum gebracht, sie war seit Isokrates eine litterarische Kunst. Das wurde sie in Rom durch Cicero, er stellte sich als Beherrscher aller Stile und Meister in der kunstmässigen Gestaltung, die aus der Rede des Tages ein Werk von litterarischer Dauer machte, unmittelbar hinter Demosthenes. Die Griechen hatten eine reiche technisch-rhetorische Litteratur; in diese trat Cicero mit seinem Buche ‚vom Redner‘ mitten hinein; und hier geschah es zum ersten mal, dass ein Römer die griechische Produktion insgesammt überragte. Hier sprach aus den Erfahrungen seines Lebens heraus ein Meister, dessen Rede am Sitze der Weltregierung etwas bedeutete, ein Schriftsteller, dem die litterarische Kunst wie wenigen Griechen zu Gebote stand. Er stellte das Ideal der rednerischen Bildung auf, das griechische Philosophen im Hinblick auf die römische Jugend construirt hatten; denn noch war es für den jungen Römer das Lebensideal, durch Redekunst zu politischer Thätigkeit und Macht zu gelangen. Noch, wie es für Cicero selber das Lebensziel gewesen war. Darin liegt die Tragik nicht nur seines Lebens, auch seines Schaffens, dass schon die Welt im Versinken war, für die er schuf und lebte. Schon für die nächste Generation konnte das Buch vom Redner nur noch ein litterarisches Buch sein, nicht mehr ein Führer fürs Leben. Ebenso das Buch ‚vom Staate‘ mit Ciceros politischem Ideal, dem verklärten Bilde des römischen Staates, die Fortsetzung der staatsphilosophischen Litteratur der Griechen. Diese Werke wie die folgende Reihe der philosophischen Schriften erneuerten die platonische

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_11.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)