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indirekt wie von der Natur gegebene Formen fortgewirkt, Nebenformen und Spielarten erzeugt haben. Es sind auch später neue Gattungsformen entstanden, aber sie haben als solche nicht gedauert. Dantes Komödie, die den mythischen Stoff der Visionen in ähnlicher Weise zu einer neuen Form gestaltete wie das attische Drama die Heldensage, war als Gattung für immer in sich beschlossen und einsam. Im allgemeinen ist jede litterarische Originalität nach der Erschaffung der Kunstformen durch die Griechen Originalität der Persönlichkeit; und die litterarische Abhängigkeit ist nichts anderes als jede andere Kette von Ursachen und Wirkungen, verschieden geartet nach den Anschauungen und Kulturmitteln, die den geistigen Gang der Nationen bestimmen.

Wenn man auf die Reihen der Römer blickt und Namen wie Lucrez, Catull, Horaz, Tacitus nennt, so sieht man rasch, dass es hier an künstlerischer Persönlichkeit nicht fehlt. Man sieht auch gleich ein zweites: nämlich dass die hellenistische Litteratur in den Zeiten des Cicero bis Tacitus Namen von diesem Klange und von dem der augusteischen Dichter nicht aufzuweisen hat. Das würde bedeuten: die römische Litteratur folgt der griechischen nach. In dieser Richtung dürfte die bestimmende Fragestellung zu finden sein. Es ist richtig antik gedacht, wenn Kant die Stufenfolge Nachmachen, Nachahmen, Nachfolgen aufstellt.

Die Griechen haben auf zwei nationale Litteraturen unmittelbar eingewirkt: die römische und die deutsche. Der gewaltige Unterschied fällt ins Auge. Hier eins von vielen Kulturvölkern, reiche mittelalterliche Litteratur, die Begründung einer neuen Schriftsprache, eine lange geistige Gährung im Kampfe von Renaissance und Reformation, eine lateinisch-französische Kunstregulirung, der mächtige Einfluss der entwickelten Kunst des Nachbarvolkes: als dann die Griechen hereintraten, war Shakespeare an ihrer Seite; und welche Phalanx von Helden stand da, sie zu empfangen. Die Römer hatten, als sie vor der Schwelle ihrer litterarischen Produktion standen, eine kriegerische und politische Vergangenheit ohne gleichen; sie hatten Italien erobert, ihren Staat und ihr Recht gestaltet; ihre Sprache hatten sie sicherlich nicht nur zu scharfer Formulirung der Rechtssätze, sondern auch in Gericht, Senat und Volksversammlung durchgebildet; von Poesie aber gab es nichts als die volksmässigen Elemente, aus deren gleichen die Griechen ihre Poesie geschaffen hatten. Das litterarische Bedürfniss erwachte, als in dem erobernden Rom eine griechische Bevölkerung zusammenströmte, als Rom über Italien hinaus in die hellenistischen Länder griff. Es wurde befriedigt, indem ein halbgriechischer

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_07.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)