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So musste, von der Wissenschaft und von der allgemeinen Bildung aus bedrängt, das Urtheil über die Werke der römischen Litteratur so unsicher werden wie es geworden ist. Am stärksten ist diese Unsicherheit bei uns; in Frankreich und Italien hat die Tradition der lateinischen Rasse, in England die festere Schultradition viel dazu gethan, die aus der Renaissance überkommene Schätzung festzuhalten. Aber das ist es nicht wessen wir bedürfen; sondern die Begründung einer neuen und wahren Anschauung vom eigenen Werthe der römischen Litteratur auf der historischen Grundlage, die wir durch die Forschung eines Jahrhunderts gewonnen haben.

In neuester Zeit sind wichtige Schritte in dieser Richtung gethan worden. Ich glaube dass wir Virgil und Cicero, den Häuptern der römischen Kultur, wieder ins Auge sehen können. Aber der Boden muss vorsichtig gewonnen werden, wir dürfen nicht aus einer Reaktion des Geschmacks gegen althergebrachte Bewunderung nur in eine andere Geschmacksreaktion verfallen. Es handelt sich zunächst nicht darum zu urtheilen, sondern der Willkür und den Zufälligkeiten des Urtheils für immer vorzubeugen, die Fragen für die analytische Untersuchung richtig zu stellen und deren Resultate unter den richtigen Gesichtspunkten zusammenzufügen. Heute indessen kann uns keine Analyse, sondern nur allgemeine Gesichtspunkte können uns noch für einige Augenblicke beschäftigen. Lassen Sie mich auf das Moment zurückkommen, das für die Geltung der römischen Litteratur in unsern Zeiten verhängnissvoll geworden ist: auf die Frage nach ihrer Abhängigkeit von der griechischen Litteratur, kürzer die Frage nach ihrer Originalität.

Es ist keine Frage, dass die römische Litteratur aus der griechischen hergeleitet ist; aber damit ist nicht gesagt, dass sie eine Nachahmungslitteratur, gleichsam eine Litteratur aus zweiter Hand gewesen sei. Diese Vorstellung entstand, als man die Griechen kennen lernte, nicht sowohl weil die römische Litteratur nachahmend, als weil die griechische[1] in einziger Weise original ist. Es giebt nur eine im strengen Sinne originale Litteratur auf der Welt, das ist die griechische; denn die Griechen haben die litterarischen Gattungen gestaltet. Nicht aus dem Nichts; das Kunstwerk soll uns erscheinen ‚frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen‘, aber es entspringt nicht aus dem Nichts. Aus den Elementen des Volks- und Heldenliedes, des Kultliedes, des Geselligkeitsliedes, des regellosen Spiels hat der griechische Geist die litterarischen Gattungsformen hervorgebracht, die in der Folge bei allen Kulturnationen direkt und


  1. Vorlage: griechiche
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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_06.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)