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Bewegung nach vorne getragen, ihre Wirkung auf die allgemeine Geistesbildung mächtig wie am ersten Tage wieder aus. Sie verschwinden zeitweise, um wie der Strom von Elis unter dem Meere herzufliessen und als Arethusa wieder aufzutauchen. So wurde die griechische Plastik, so Homer, so Shakespeare, nachdem sie ihre Perioden geheimer und indirekter Wirkung erfüllt hatten, für die Weltkultur gleichsam wiederentdeckt; so erwarten andere Gewaltige ruhig ihre Zeit, und wer sie gestorben glaubt oder verschwunden, da gewisse Leute aufgeklärt haben – nirgend häufiger als auf diesem Gebiete sind zu Narren geworden die sich weise dünkten.

Die Geschichte kennt kein Beispiel einer Kulturwirkung, die ununterbrochener angedauert hätte als die der römischen Litteratur. Sie hat den Occident kultivirt, sein Mittelalter beherrscht, und ist in der Bildung der Nationen, die ihre Sprachen aus der lateinischen abgeleitet haben, durch alle Trübung und Umbiegung so wirksam geblieben wie es noch am Ende jener Zeiten Dantes Gedicht bezeugt. Dann trat sie mit Petrarca jung und kräftig wieder auf den Plan, und Cicero und Virgil, Terenz und Seneca wurden die Meister und Muster einer neuen Zeit. Das Griechische war Eigenthum weniger Gelehrter, das Latein und die römischen Dichter gehörten der Welt; an ihnen wurde alle litterarische Grösse gemessen. Diese Geltung dauerte bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein. Ihr Bann wurde in Deutschland gebrochen, als Homer und die griechische Poesie am Horizont unserer jungen Litteratur aufgingen. Da verscheuchte das Licht seinen Abglanz; die Römer traten zurück und überliessen ihren alten Meistern das Feld. Wie konnte Virgil mit Homer, Cicero mit Plato den Kampf aufnehmen? So wenig wie nach kurzer Frist Lessings und Winkelmanns Laokoon gegen den Ostgiebel des Parthenon bestehen konnte. Nur wo die griechische Ueberlieferung versagte, blieben Römer wie Properz in vorderer Linie.

Auch in der Wissenschaft war die Stunde des Griechenthums gekommen. Die historische Philologie, die in engem Zusammenhange mit dem Wachsthum der nationalen Litteratur in Deutschland aufblühte, musste auf die Wurzeln des antiken Lebens dringen und seine vollkommensten Gebilde erforschen: griechischer Glaube und Staat, griechische Verskunst und Sprache, griechische Poesie und Philosophie waren ihre Gegenstände und Ziele. Es war auch ein vollkommen organischer Zug der neuen Wissenschaft, dass die Gebiete des römischen Lebens, auf die sich die historische Forschung zunächst erstreckte, das römische Recht und die römische

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_04.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)