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Gang des Gefechts nicht beurteilen. An diesem Tage, gleich am Morgen, erlebte ich zum erstenmal, dass eine Kugel unmittelbar neben mir einen Kame­raden traf. Ich weiss nicht mehr wie er hiess, erinnere mich aber genau, wie er aussah, ein langer blonder Westfälinger. Wir lagen zusammen an einer Hecke und schossen in die Rauchwölkchen der feindlichen Gewehrschüsse hinein, die am Horizont erschienen, ohne dass wir die Schützen sehen konnten. Das hässliche Gepfeife der blauen Bohnen war beständig um uns her. Auf einmal krachte es wie wenn eine Kugel in einen Baumstamm schlüge, mein Nebenmann tat einen Satz in seiner ganzen Länge und fiel hintenüber an den Boden, indem er rief: ‚nu möt ik starwen!‘ Er war neben dem Auge in die Schläfe getroffen. Der Leutnant, der in der Nähe war, liess den Leblosen durch zwei Soldaten hinter die Gefechtslinie in den Lazaretwagen bringen. Wir dachten nicht anders als das es mit ihm zu Ende sei; und ich war sehr überrascht, als ich ihn zufällig nach vier bis sechs Wochen wohlbehalten wiedersah. Es gibt da einen Gang, durch den die Kugel bequem hindurch fahren kann, ohne eine unheilbare Wunde zu hinterlassen, und den hatte sie benutzt; vielleicht lebt der Mann heute noch und erzählt auch grade seinen Kindern was er im Kriege erlebt hat.

Am Nachmittag ging ich mit einer Patrouille, die ein Leutnant führte und ein Unterofficier Na­mens Schulze, über das freie Feld. Das feindliche Feuer hatte längst geschwiegen, es fing gerade wieder ganz vereinzelt an, aber gegen die paar Pfiffe suchten wir

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Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_52.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)