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Was zunächst die Gefühle des Künstlers selbst anlangt, so wird er unzweifelhaft vorziehen, sie selbst zu erleben, als sie aus einem Lehrbuch der Psychologie kennen zu lernen. Damit glaube ich einen Einwand auszusprechen, der vielleicht manchen von Ihnen auf der Zunge liegt. Das ist unzweifelhaft richtig; ebensowenig, wie man aus einem Lehrbuche lernen kann, wie die Empfindung blau oder süß beschaffen ist, ebensowenig kann man sich aus einem solchen über Gefühle unterrichten lassen wollen, die man nicht aus Erfahrung kennt. Aber dies soll die Wissenschaft auch nicht; ihre Aufgabe beginnt erst etwas später. Die verschiedenen Gefühle folgen aufeinander nicht regellos, sondern zufolge bestimmter Gesetzmäßigkeiten. Wenn beispielsweise in Goethes köstlicher Idylle Alexis und Dora, die Schilderung, wie sich die Liebenden im Augenblicke des Abschieds gefunden hatten, sich zu höherer und höherer Glut in der Ausmalung der wonnigen Zukunft steigert und dann an der höchsten Stelle mit schneller Wendung in eine ebenso leidenschaftliche Eifersucht überschlägt, so fühlen wir lebhaft, mit welcher Sicherheit hier der Künstler das psychologische Gesetz von den Kontrastempfindungen gehandhabt hat. Vielleicht erkennt es nicht ein jeder bewußt; wohl aber fühlt ein jeder doch die innere Richtigkeit, ja Notwendigkeit

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Wilhelm Ostwald: Kunst und Wissenschaft. Verlag von Veit und Comp., Leipzig 1905, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Wissenschaft.pdf/32&oldid=- (Version vom 1.8.2018)