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doch ein wenig stubenluftig und blutarm zu werden drohte, wurde sie in den Tagen der Aufsäßigkeit äußerst gesund und munter, wenn auch andererseits ihre Ordentlichkeit oft nicht wenig zu wünschen übrig ließ. Das Ergebnis ist, daß zwar die Tante der Meinung geblieben ist, daß die Kunst ohne ihre Hilfe und Führung nicht wohl, wie es sich gehört, durch das Leben gehen kann, daß aber die Kunst ihrerseits durchaus der Meinung ist, daß die Tante besser wäre, wo der Pfeffer wächst, und daß das eigentliche Leben erst angeht, wo sie nicht immer hineinschaut.

Im Leben pflegen derartige Verhältnisse mit einem Bruch zu enden, indem der Bube endlich entläuft, wenn nicht die Tante vorher stirbt. Das kommt daher, daß beide Teile eben älter werden, und daß dadurch der Gegensatz zwischen ihnen immer schärfer in die Erscheinung tritt. Bei dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst kann dies nicht eintreten. Einmal, weil beide unsterblich sind, und zweitens weil sie einander nie entlaufen können. Denn wohin die Kunst auch laufen mag, überall findet sie die Wissenschaft vor. Und die Wissenschaft kann trotz des groben Undankes, den sie bisher von der Kunst erfahren hat, nicht von ihr lassen. So entsteht die Frage: ist nicht doch auf irgend eine Weise ein Auskommen zwischen beiden möglich?

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Wilhelm Ostwald: Kunst und Wissenschaft. Verlag von Veit und Comp., Leipzig 1905, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Wissenschaft.pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)