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Sie war über die Zwanzig und groß.

„Kleinrussisch“ vom Scheitel bis zur Sohle, hatte sie nur rötliches Haar, welches bei den Kleinrussen zur Seltenheit gehört, aber die Züge hatten Rasse, und die fast melancholische Trauer, die sich auf allem ausprägt, was an diese unglückliche Nation gemahnt, war auch bei ihr ein Grundzug des Charakters. Ihre Augen, groß, etwas unbeweglich und von feuchtem, schimmerndem Glanze, blieben auch dann traurig, wenn der Mund lächelte.

Um dieser ihrer Augen willen nannte man sie „die russische Madonna“. In Einsamkeit und in einem fast üppigen Glanze aufgewachsen, kannte sie weder das Leben, noch wußte sie etwas von seinen düsteren Seiten. Sie kannte es bloß aus Büchern, aus welchen sie sich bis zum Überdruß voll las.

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Olga Kobylanska: Kleinrussische Novellen. J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westf. [1901], Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KobyljanskaKleinrussischeNovellen.pdf/39&oldid=- (Version vom 12.9.2022)