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und Sophie Okuniewska – die erste Kleinrussin, welche den medizinischen Doktorgrad erwarb – wurde sie in die litterarische Bewegung ihrer Nation hinübergezogen. Das Schicksal des Weibes, des zur Hilflosigkeit verurteilten, beschäftigte von je ihr Fühlen und Denken aufs innigste. Das Wort „nur ein Weib“ genügte ihr nicht, und rücksichtslos fordert sie für das Weib volle Freiheit und unverkümmertes Recht auf Leben und Liebe. Dies Verlangen kommt ihr nicht aus sozialpolitischer Weisheit, es lodert mit Naturgewalt aus mitfühlendem, heißem Herzen, und das nicht zum Schaden des poetischen Wertes ihrer Schöpfungen, wenn auch die Klarheit der praktischen Schlüsse darunter leidet. Das giebt den Grundzug der Gedanken und Gefühle, welche in ihren Erzählungen leben, in denen sie uns in psychologisch feiner und scharfer Darstellung Anteil nehmen läßt an den schmerzvollen Kämpfen des entgegen den Vorurteilen und Gesetzen, entgegen der Not des Lebens nach Freiheit ringenden Weibes, das in diesem Kampfe an der eigenen eingeborenen Hilflosigkeit oder an der Übermacht der äußeren Gewalten meist erliegen muß. Nur für die Künstlerin und für das starke Bauernweib, das unkultivierte Kind der Berge, findet sie den Weg zur Freiheit. Bei dem unwandelbaren Triebe zur Freiheit, zum Individualismus, der im innersten Wesen der Dichterin sich gründet, ist es natürlich, daß Nietzsche auf sie einen starken Eindruck machen mußte, und

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Olga Kobylanska: Kleinrussische Novellen. J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westf. [1901], Seite XXIII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KobyljanskaKleinrussischeNovellen.pdf/31&oldid=- (Version vom 13.9.2022)