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unersättlichem Dürsten und schien der Atem Tausender und abermals Tausender lebensgieriger Wesen zu sein.

Ein Duft, der an berauschende Leidenschaft gemahnte, an vollendete, begehrende Reife, strömte aus der Tiefe des Waldes und riß auch die mit sich fort, die seither nur in keuschverstecktem Erwarten dastanden, den Wunsch, voll zu leben als schamhaftes Geheimnis im Herzen bergend.

Die Farne lösten ihre prophetischen Zungen.

Die Kelche der keuschesten Blumen wurden zu vollendeten Blüten. Die Angst, daß sie morgen zu leben aufhören könnten, erweckte in ihnen die Gier, nebeneinander zum letzten Male in vollster Pracht zu prangen. Morgen würden sie vielleicht schon zertreten daliegen, ihre Kronen entblättert und gebrochen werden. Morgen würde vielleicht niemand mehr wissen, daß sie waren und voll Schönheit waren. Der Waldboden belebte sich mit Johanniskäfern, die wie Lichttropfen im Moose glänzten; Grillen in erstaunlicher Menge riefen sich an und antworteten und wollten gar nicht verstummen. Es herrschte in ihnen die Stimmung, aus sich selbst herauszutreten, Verlangen nach Schwelgereien, nach rückhaltlos

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Olga Kobylanska: Kleinrussische Novellen. J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westf. [1901], Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KobyljanskaKleinrussischeNovellen.pdf/209&oldid=- (Version vom 13.9.2022)