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zu, seinen breiten rollenden Rhythmen, die brausen wie die Wogen des Atlantischen Ozeans. Walt Whitman sang von seinem Buch: Camerado, dies ist kein Buch – wer dies anrührt, rührt einen Menschen an! Dieses Motto sähen die jungen Dichter gern über alle ihre Bücher: ihre Dramen, Verse, romantischen Romane gesetzt. Sie wollen vor allem Menschen sein. Und Menschen sein. Wir sind! Wir sind! jubeln sie emphatisch mit Werfel. Die Ekstase ist eines der Kennzeichen ihres Wollens. Von ihr sind die Formen oft so zerrissen, zerhackt, im Winde flatternd. Oft opfern sie das Dichterische auf Kosten des Moralischen. Ihre Empfindung ist vielfach schon keine individuelle mehr: ihr Erlebnis ist schon zum Kollektiverlebnis geworden. Sie dichten nicht mehr – sondern der Stil dichtet für sie. – Einen elegischen Nebensproß Werfels trieb Österreich in Georg Trakl (aus Salzburg, 1887 bis 1914), dem Dichter der sanften Schwermut, des süßen Verzichtes, des violetten Unterganges, dem Hölderlin unserer Zeit. Alle Gedichte Trakls sind herbstliche Landschaften. Immer tönen leise im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes. In Gottfried Benns Gedichten ist dies Ereignis geworden: Hirn wurde Herz, Geist wurde Fleisch. Benn steht für sich selbst und auf sich selbst: kein Werfel-, kein Whitmanjünger: ein Benn. Auch in seinen Novellen. Johannes R. Becher (geb. 1890) ruft in seinen Gedichten „An Europa“ zur „Verbrüderung“. Es finden sich wundervolle einzelne Strophen und Weisen in allen seinen Büchern, die der sozialistischen Revolution dienen wollen, aber kaum ein vollendetes Gedicht. Der Wille zur These überschreit den Willen zur Form. Eine krampfartig geschaffene neue Syntax ist noch keine neue Kunstform. Albert Ehrenstein (geb. in Wien 1886) schleudert seine Flüche gegen die „rote Zeit“. Europa wird zum Barbaropa. Ein griechisch gerichteter Geist zersprengt sich selbst und seine Form in Haßgesängen. Sein Reifstes bleibt die österreichische Novelle Tubutsch:

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_094.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)