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Seins, der Expressionismus die Wahrheit der Seele. Es ist klar, daß auf einer höheren Ebene diese Forderungen sich in einem Schnittpunkt berühren: da, wo Sein und Seele, Erde und Himmel eins geworden sind. Im Formalen äußert sich der Gegensatz der beiden Strömungen derart: beim Impressionismus: Analyse des Geistes, Synthese der Form. Beim Expressionismus: Synthese des Geistes, Analyse der Form. Die Naturalisten waren für Deutschland die Entdecker des Proletariers als „Gegenstand“ der dichterischen Betrachtung: da ihrer Betrachtung ja auch das Niederste und Unterste wert erschien. Aber der Proletarier, der arme Mensch, der ärmste Mensch, blieb ihnen eben doch nur „Gegenstand“. Erst die politischen und expressionistischen Dichter der jüngsten Generation, wie Werfel, Ehrenstein, Becher, haben den entscheidenden Schritt vollzogen, indem sie sich mit dem Proletarier identifizierten. Die proletarische Lyrik der Henckell (geboren 1864), Mackay (geboren 1864) (Mackays Roman „Der Schwimmer“ ist eine der besten Prosaleistungen des Naturalismus) usw. wirkt denn auch ziemlich zahm bürgerlich. In Arno Holz (aus Rastenburg, geboren 1863) „Buch der Zeit“ klingt sie kräftiger. Dessen eigentliche Bedeutung liegt aber nicht darin, sondern in seinem romantischen Buche „Phantasus“, mit dem er zwar keine Revolution der Lyrik, wie er meinte, eingeleitet und eingeläutet hat, aber die wesentliche Stimme seiner eigenen Lyrik fand. Diejenigen, bei denen der Naturalismus ein totes Dogma wurde, sind, manche noch lebendigen Leibes, gestorben. Vom Naturalismus kam, aber ihn überflügelte bald mit silbernen Flügeln: Gerhart Hauptmann (geb. 1862 in Salzbrunn). Wie ein Baum zieht er seine Säfte aus der schlesischen Erde, aber seine Krone ragt in den Himmel und sein Gezweig überschattet hundert Naturalisten. Mit der Weißglut seines Willens hat er die naturalistische Theorie durchschmolzen. Keine konstruierten Maschinen, keine Homunkulusse[1] durchwandeln die Welt

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Homunculus (lat. „Menschlein“), künstlich geschaffener Mensch
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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_082.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)