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bescheidene Zeit: „Die Menschen waren damals noch höflicher gegeneinander. Das Disputieren und Schreien galt in einer feinen Gesellschaft für sehr unziemlich. Wer seine Nase in die Politik steckte, den hießen wir einen Kannegießer, und war’s ein Schuster, so ließ man die Stiefel bei seinem Nachbar machen. Die Dienstmädchen hießen noch alle Stine und Trine, und jeder trug den Rock nach seinem Stande ... Aber was wollt ihr denn?“ fuhr die alte Großmutter fort, „wollt ihr alle mitregieren?“ Ja, Großmutter, das wollen wir nun freilich, und darum sind wir auch alle so unglücklich und ruhlos, so hin und her gerissen zwischen Stern und Erde, so kriegerisch und friedlich zugleich.

Paul Heyse ist im Strom der Zeiten schon versunken, so gut und tief versunken wie Geibel (aus Lübeck, 1815–1884), der einst so hochgefeierte. Geibel wollte 1871 mit seinen „Heroldsrufen“ eine große Zeit einrufen. Aber Krieg und Sieg von 1870/71 hatten für die deutsche Dichtung und Kultur eine katastrophale Wirkung. Die Heroldsrufe riefen einem Zeitalter, das in niedrigstem Materialismus, größtem Größenwahn, in Goldsucherei, Aufgeblasenheit (aufgeblasen wie ein Jahrmarktsschwein) und Chauvinismus seinesgleichen suchte. Hohenzollernsch patentierter, mehr oder weniger gereimter Patriotismus von Geibel und seinen Nachbetern und Nachtretern lyrisch, von Wildenbruch, selbst einem abseitigen Hohenzollernsproß, dramatisch aufgeputzt, von Julius Wolff in seinen Ritterromanen in die große Vergangenheit projiziert, aus ihr eine große Gegenwart und große Zukunft abstrahierend (wie sprach doch Wilhelm II. einst? „Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen ...“) süßlich gesabberte Lyrik der Baumbäche und Bodenstedter, eine unechte flache Erzählerkunst – das waren die ersten kulturellen Früchte der Einigung des deutschen Volkes. Fast zwei Jahrzehnte hat das deutsche Volk diese Limonadensuppen in sich hineingesoffen, während ihm der frische Trunk der echten Dichtung, den ihnen

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_079.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)