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zieht den Dichter ins Moos hinab, wo die Leuchtkäfer zwischen ihren Küssen brennen. Und der Mond sinkt herab, und die Sonne steigt herauf. Wie eine rote Rose erblüht sie zwischen den Narzissen der Morgendämmerung.

Jean Paul war im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der berühmteste, geliebteste und beliebteste deutsche Dichter. Zu seinen Füßen saßen die schönsten Frauen, und sie seufzten und zerdrückten heimliche Tränen in den Wimpern, wenn er ihnen aus seinem „Titan“ und aus dem „Siebenkäs“[1] vorlas mit tönender Stimme, oder zu ihnen über das Immergrün unserer Gefühle sprach. Aber nicht nur die Damen lauschten ihm. Er hatte bei aller Empfindsamkeit das sichere Bewußtsein der Grenzen unserer Empfindungen, und der ewige Zwiespalt zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, er war auch ihm offenbar. Er überbrückte ihn mit seinem Lächeln und seinem Gelächter. Seine komischen Erzählungen geben Kunde davon. Jean Paul war ein glücklicher Mensch. Das Leben und die Liebe und der Ruhm, er genoß sie in vollen Zügen. Seinem lyrischen Bruder im Geiste: Friedrich Hölderlin (aus Lauffen am Neckar, 1770 bis 1843), genannt der Unglückliche, blieb alles dies versagt. Mit vollen Segeln wollte er über die Wogen der Welt segeln.

Wünscht ich der Helden einer zu sein,
Und dürfte es frei bekennen,
So wär’ ich ein Seeheld.

Aber zerfetzt trieb sein Segel zurück. Er war zu schwach gewesen. Und höhnisch sauste um seine Stirne der Sturm. Wer kannte ihn? Wer wußte, wer er war? Schiller protegierte ihn so lange, als er schillerisch dichtete. Als er begann, seinen eigenen Gesang zu singen, wandte er sich von ihm. Im „Hyperion“ blättert Hölderlin sein inneres Leben vor uns auf. Er litt unendlich: unter seiner Liebe zu Diotima, unter seinem Haß gegen die Gegenwart. Ganz schwang er sich aus ihr und lebte nur als Vergangener oder Zukünftiger. Sein


  1. Vorlage: „Siebenhäs“
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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_054.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)