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um die Befreiung des Menschen. Goethe selber war kein politischer Mensch in des Wortes strengster Bedeutung. In „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren“, dem groß angelegeten Sittengemälde seiner Zeit, wird das Verhältnis des Menschen zum Staat oder Staatsbegriff nicht einmal gestreift. Das Theater steht im Mittelpunkt des Interesses. Der Held entwickelt sich vom Theater zum Leben hin, vom Schein zum Sein. Zarte und zärtliche Frauen wie Philine und Mignon begleiten und befördern seinen Weg. Wie die Lehrjahre in ihrer berstenden Fülle das prosaische Seitenstück zum Faust bilden, so die „Wahlverwandtschaften“ in ihrer Gedrungenheit und klaren Kürze das Seitenstück zur Iphigenie.

Goethe starb, nach der Vollendung seines Faust im 83. Jahre, am 22. März 1832.

Mit Heinse und Geßner bildet Jean Paul (aus Wunsiedel, 1763–1825) das Triumvirat der romantischen Prosadichter, von dem die heute lebenden Deutschen so gut wie keine Ahnung mehr haben: sonst wären sie bescheidener in ihrer Selbstkritik und im Glauben, wie herrlich weit sie’s gebracht. Jean Paul ist der größte unter den dreien, und einer der größten deutschen Dichter überhaupt. Freilich, es ist nicht leicht, zu ihm zu gelangen. Er hat sein Schloß mit Dornenhecken, Fallgruben und Selbstschüssen umgeben. Sein Park ist von üppiger Wildnis. Gepflegte, glatte Wege gibt es da nicht. Rehe grasen vor seinen Fenstern. Und die Schwalben fliegen ihm ins Arbeitszimmer, und auf seiner Schulter sitzt, wenn er schreibt, eine Dohle. An den Wänden hängen Spinnweben. Nachts, wenn er im Garten wandelt, ist der Mond sein Gefährte. Seine Gefährtinnen sind Elfen, die ihn umspielen, und deren schönste ihn menschlich liebt wie ein Mensch einen Menschen. Sie heißt Liane. Und da der Mond nun zum Zenit steigt und die Bäume von seinem Glanze tropfen, da winkt sie leise den Genossinnen, und sie entschwinden, vergehen strahlend im Mondstrahl. Sie

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_053.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)