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die treue und gute Christiane Vulpius, der er so wacker seinerseits die Treue hielt, allen Intrigen des Weimarer Hoflebens zum Trotz, die er, der Minister als Geliebte in sein Haus zu nehmen wagte, die er endlich, längst nachdem sie ihm einen Sohn geboren, dankbar zu seiner rechtmäßigen Gattin machte und die ihm unendlich mehr bedeutet hat als eine oberflächliche Literaturhistorik wahr haben will. Sein einsames Herz bedurfte ihrer Herzlichkeit. Sein Sinn ihrer Sinnlichkeit. Und dann die vielen Namenlosen, die er liebte, die Frauen in Thüringen, in der Schweiz, in Italien. Und endlich die Suleika des „Westöstlichen Diwans“, die den alternden Dichter zur letzten, wilden Trilogie der Leidenschaft entflammte. Welch ein Reigen von Frauen! Wir wollen keine geringer achten, auch jene namenlosen nicht, ihnen allen sei der Kranz des Lorbeers auf die schönen Stirnen gedrückt.

Im deutschen Sängerkrieg auf der Wartburg hat Goethe sich in allen Arten den ersten Preis ersungen: im Drama durch „Faust“ und „Iphigenie“, in der Prosa durch „Wilhelm Meister“ und die „Wahlverwandtschaften“, in der Lyrik durch „Ganymed“, „Wanderers Nachtlied“, „An den Mond“, die „Trilogie der Leidenschaft“ und vieles andere. Er beherrschte die konträrsten Stile. Sang wie ein Kind zu Kindern:

Ich komme bald, ihr goldnen Kinder!

Und, ganz aus dämonischer Tiefe, die Worte steigen wie Nickelmänner und Elfen aus einem tieftiefen Brunnen, so tief wie der Brunnen auf der Burg von Nürnberg, dessen Ende wir nicht sehen:

Sieh, die Sonne sinkt!
Eh’ sie sinkt, eh’ mich Greisen
ergreift im Moore Nebelduft,
entzahnte Kiefer schnattern
und das schlotternde Gebein –
Trunkner vom letzten Strahl,

Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_048.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)