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Stuart (1800) wendet sich Schiller noch einem weiblichen Helden zu: der Jungfrau von Orleans, der Verkörperung religiöser Vaterlandsliebe. Im „Tell“, seinem letzten Drama, gestaltet Schiller noch einmal die Idee der „Freiheit“ und nimmt noch einmal die Partei der „Unterdrückten aller Länder“. Dieses Drama berührt sich in mehr als einem Punkt mit seinem Erstlingsdrama, den „Räubern“. Keine philologische oder moralische Spitzfindigkeit wird übrigens darüber wegtäuschen können, daß dieses Drama in der Tat des Tell den politischen Meuchelmord verteidigt, ja verherrlicht, und keines dürfte sich besser für eine Festvorstellung, vor Terroristen gegeben, eignen. Der individuelle Terror findet hier seine glänzendste Gloriole. Tell scheint mir nichts als eine aus der Tiefe seines Unterbewußtseins getretene Figur seiner Jugendzeit, die gegen Geßler (Herzog Karl Eugen), dem symbolhaft verdichteten Bild des deutschen Duodeztyrannen[1], den tödlichen Pfeil richtet, um sich endgültig von ihm zu befreien ... Als Lyriker steht Schiller hinter dem von ihm verkannten Hölderlin, hinter Goethe, Günther, Eichendorff zurück. Seine Gedankenlyrik gibt mehr Gedanken als Lyrik. Als Balladendichter darf er hohen Rang beanspruchen. Seine Größe liegt in seinen Dramen. Man hüte sich, ihn weder zu über- noch zu unterschätzen. Unschuldig schuldig ist er an jener Kriegervereinspathetik, die sich, besonders seit 1870, in die geschwellte Brust warf und Schillersche Formen und Schillersches Pathos mit leeren chauvinistischer Rodomontaden[2] füllte. Gegenüber solcher „Idee“lichkeit kann die Goethesche „Sach“lichkeit nur heilsam wirken: wie sie auch auf Schiller selbst heilsam gewirkt hat.


Um diese Zeit lebten auch, fern aller literarischen Bestrebungen, aber mit der Tradition der deutschen Dichtung aufs tiefste verwachsen, zwei der liebenswürdigsten deutschen Dichter, die man, wie die siamesischen Zwillinge, immer nur zusammen nennen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Duodez (lat.), in Wortverbindung verächtliche Bezeichnung des Kleinen
  2. Rodomontaden (ital.), Prahlereien, Aufschneiderei
Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_044.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)