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der sie in den Abgrund führt. Über der festen Grundlage einer allgemeinen, philosophischen und philologischen Bildung wölbte sich bei Herder in den Gewittern seiner Zeit der Regenbogen eines großen Geistes und eines hellen Herzens. Auf einer Reise nach Paris lernte er Diderot, einen der geistigen Urheber der Französischen Revolution kennen. In Straßburg geschah jene denkwürdige Begegnung mit Goethe: der schwärmerische Jüngling empfing aus dem Munde des gereiften und gelehrten Mannes den mächtigsten Ansporn, die liebevollste Leitung. Herder war gleichsam ein Denker des Gefühls. Manchmal schlägt der Blitz der apriorischen Logik in seinen Gedankenwald, ihn und uns belehrend, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Aber um den verkohlten Stamm schlingen sich liebend und lieblich die reinsten Gefühle, die weißesten Winden. Sein „Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ (1773) bedeutet weit weniger durch die aufgestellten Thesen (Unterschied zwischen Kunst- und Volksdichtung), als durch die flammende Liebe, die hier und anderswo in seinen Schriften die Wissenschaft durchlodert. Sein Aufruf, die alten Volkslieder zu sammeln, war eines der wichtigsten Manifeste des deutschen achtzehnten Jahrhunderts. Er ist auch der Schöpfer dieses Wortes: Volkslied. 1778–79 durfte er dann selbst in seinen „Volksliedern“ („Stimmen der Völker in Liedern“) dem deutschen Volk ein prachtvolles Dokument der Volkslieder aller Zeiten und Zonen vorlegen: die fremdländischen Lieder in Übertragungen von ihm selbst. Schon vorher war er in den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur gegen Affekt- und Effekthascherei, gegen die französische und griechische Mode aufgetreten und hatte das Rosseausche „Zurück zur Natur!“ für die deutsche Dichtung formuliert: „Zurück zu Natürlichkeit! Zu den Quellen deutscher Sprache und deutschen Volkstums! Die Kunstdichtung kann nur auf dem Acker der Volksdichtung gedeihen. Zerstört die gläsernen Treibhäuser und laßt das freie

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_041.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)