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noch Thüre hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief

„Rapunzel, Rapunzel,
laß mir dein Haar herunter.“

Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt, und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt, und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn suchte vergeblich nach einer Thüre des Thurms, der Gesang hatte ihm aber so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und darauf horchte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er die Zauberin herankommen, und hörte wie sie hinauf rief

„Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter.“

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. „Ist das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt,“ sprach der Königssohn, „so will ich auch einmal mein Glück versuchen.“ Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme, und rief

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1843). Göttingen 1843, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_Grimm_1843_I_076.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)