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195.


Der Grabhügel.


Ein reicher Bauer stand eines Tags in seinem Hof und schaute nach seinen Feldern und Gärten: das Korn wuchs kräftig heran und die Obstbäume hiengen voll Früchte. Das Getraide des vorigen Jahrs lag noch in so mächtigen Haufen auf dem Boden, daß es kaum die Balken tragen konnten. Dann gieng er in den Stall, da standen die gemästeten Ochsen, die fetten Kühe und die spiegelglatten Pferde. Endlich gieng er in seine Stube zurück und warf seine Blicke auf die eisernen Kasten, in welchen sein Geld lag. Als er so stand, und seinen Reichthum übersah, klopfte es auf einmal heftig bei ihm an. Es klopfte aber nicht an die Thüre seiner Stube, sondern an die Thüre seines Herzens. Sie that sich auf und er hörte eine Stimme, die zu ihm sprach „hast du den Deinigen damit wohl gethan? hast du die Noth der Armen angesehen? hast du mit den Hungrigen dein Brot getheilt? war dir genug was du besaßest oder hast du noch immer mehr verlangt?“ Das Herz zögerte nicht mit der Antwort „ich bin hart und unerbittlich gewesen und habe den Meinigen niemals etwas Gutes erzeigt. Ist ein Armer gekommen, so habe ich mein Auge weg gewendet. Ich habe mich um Gott nicht bekümmert, sondern nur an die Mehrung meines Reichthums gedacht. Wäre alles mein eigen gewesen, was der Himmel bedeckte, dennoch hätte ich nicht genug gehabt.“ Als er diese Antwort vernahm, erschrack er heftig: die Knie fiengen an ihm zu zittern und er mußte sich niedersetzen. Da klopfte es abermals an, aber es klopfte an die Thüre seiner Stube. Es war sein

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1857). Göttingen 1857, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1857_II_439.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)