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des unsichtbar machenden Mantels statt der Annahme einer andern Gestalt, wozu Götter die Kraft besitzen, mag erst aus Märchen eingeführt sein. In der Dieterichssage und in der älteren Gudrun ist es bis auf leise Spuren verschwunden, gänzlich in Walther und Hildegunde. Neben der Heldensage hat das Märchen gewis ununterbrochen fort bestanden, schon in der heutigen oder einer ihr nahe kommenden Gestalt, nur weniger lückenhaft und gestört. Zeugnis davon liefern das lateinische Märchen bei Ratherius (Haupts Zeitschr. 8, 21), der Modus liebinc das Schneekind (Hagens Gesammtabenteuer 3, 719) und Modus florum (Eberts Überlieferungen 1, 79), alle drei aus dem zehnten Jahrhundert. Daß der Theil von Rudlieb, der in das mythischmärchenhafte übergeht, uns verloren ist, und wir den Inhalt desselben nur aus einigen Bruchstücken errathen können, muß man als einen nicht geringen Verlust betrachten, und nicht bloß des Inhalts wegen, auch wegen der von frischer Lebendigkeit überströmenden, in poetischer Ausführlichkeit glücklichen Darstellung, die wir selbst in der fremden Sprache an dem Dichter bewundern. Unibos (Latein. Gedichte des Mittelalters 354) ist unser Bürle (Nr. 61). Ein Märchen enthält König Laurin, Sanct Oswald, die Entführung Hagens durch den Greif in dem ersten Theil der Gudrun, der Rosengarten, der arme Heinrich, der Pfaffe Amis, Schretel und Wasserbär (Haupts Zeitschr. 6, 174), die zwölf Tursen (Altd. Wäld. 3, 178. Konrad von Würzburg MS. 2, 205), der rosenlachende Mann in Heinrichs von Neustadt Apollonius (Altd. Wäld. 1, 72).

Man wird fragen wo die äußeren Grenzen des Gemeinsamen bei den Märchen beginnen und wie die Grade der Verwandtschaft sich abstufen. Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu benennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engern Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in demselben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen, dazu gehörigen Völker Gemeinsames und Besonderes entdecken. Findet man bei den Arabern einige mit deutschen verwandte Märchen, so läßt sich dies auf die Abstammung der Tausend und einen Nacht, wo sie vorkommen, aus indischer Quelle erklären, die Schlegel mit Recht behauptet hat. So gewis für jetzt die angegebene Gränze gilt, so ergibt sich vielleicht, wenn noch andere Quellen sich aufthun, die Nothwendigkeit einer Erweiterung, denn mit Erstaunen erblickt man in den Märchen, die von den Negern in Bornu und den

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_411.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)