Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 410.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

das Gräuelhafte und Entsetzliche nicht abweist. Sie wird erst milder, wenn die Beobachtung einfacher Zustände in dem Leben des Hirten, des Jägers, des Ackerbauenden, und der Einfluß gereinigter Sitte hinzu tritt. Mit Verwunderung erblicken wir in der finnischen und nordamerikanischen Sage das Maßlose und Ungeheure unmittelbar neben Schilderungen des einfachsten, fast idyllischen Lebens. Oft unschön, manchmal nackt und roh erfüllt es die tibetische Sage, obgleich auch hier nicht ganz die Darstellung natürlicher Verhältnisse oder Äußerungen wahrhafter Empfindung fehlen. In dem Grad, in welchem menschliche und gemilderte Sitte sich entwickelt und die sinnliche Fülle der Dichtung wächst, weicht das Mythische zurück und beginnt sich mit dem Duft der Ferne zu überziehen, der die Deutlichkeit der Umrisse schwächt, aber die Anmuth der Dichtung erhöht, etwa wie die bildende Kunst von den scharf gezeichneten, hagern, sogar häßlichen aber bedeutungsvollen Gestalten zu der äußern Schönheit der Formen übergeht. Kommt der Glanz der Heldenzeit über ein Volk, und bewegen große Thaten die Gemüther, so erfolgt eine neue Umwandlung der Sage. Die Götter gesellt Homer zu den Menschen, deren Gestalt sie annehmen, und die Helden werden fast bis zu ihnen hinauf gerückt: in Mahabharata wird Nahuscha ein Mensch als König über die Götter wie über die Welt gesetzt, und die Gleichstellung beider in dem Krieg der Kuruinge und Panduinge ist noch größer als in der Ilias. Damajanti weiß den Nalas von den Himmlischen, die sich zu der Brautwerbung mit ihm eingefunden haben, nicht zu unterscheiden. Ganga gebiert dem Könige Pratipa acht Kinder, ehe er erfährt daß sie eine Göttin ist. Die unbändige Titanenkraft Rustems, der die Seele der altpersischen Sage in sich trägt, unterwirft sich selbst im Trotz der Hoheit des irdischen Herrn. Der Einzelkampf, in dem sonst die Entscheidung lag und der genau bestimmten Gesetzen unterworfen war, breitet sich zur Völkerschlacht aus, wo alle an dem Ruhm des Sieges oder dem Untergang eines Heldengeschlechts Theil nehmen. Das Epos strebt nach geschichtlicher Wahrheit, Maß und Ordnung aller Dinge, wie nach innerm Adel der Gesinnung: das Mythische und Wunderbare, wo es noch verbleibt, muß den Schein des Geschichtlichen annehmen und soll als Wahrheit gelten. Nur wenig davon erträgt das Nibelungelied, nur im Hintergrund zeigen sich die Schwanenjungfrauen, selbst die Hornhaut und die Unverwundbarkeit Siegfrieds waren der ältern Auffassung der Edda fremd: auch der Erwerb

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_410.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)