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womit jede tiefere Bedeutung schwindet. Eine dankenswerthe Zusammenstellung enthalten die irischen Sagen und Märchen von K. von Killinger, wo auch benutzt ist was in den Popular tales and legends von Lover (1832–34) und in Thoms Märchen und Sagen aller Völker (1834) vorkommt. Nichts besser kann die immer aufgeregte, mit einer gewissen Wildheit behaftete, aber auch mit den geistigsten Kräften ausgestattete Natur der Irländer schildern als diese Märchen: nur eine so behende Phantasie war fähig dem Grundgedanken der Sage einen Ausdruck zu verleihen, der uns durch immer neue und unerwartete Wendungen überrascht. Fast in allen wird die Verwickelung der Ereignisse oder ihre Lösung durch den Zutritt eines der geisterhaften Wesen bewirkt, die in zahlloser Menge Wasser und Land, Wälder und Berge, Felsen und Einöden bewohnen und die reizendste wie die häßlichste Gestalt annehmen. Herzlos, wie sie sind, suchen sie die Menschen in ihren Kreis zu bannen, als trügen sie Verlangen das warme Leben derselben in sich aufzunehmen. Man kennt ihre Tücke und scheut sie, aber man sucht sich mit ihnen in gutem Vernehmen zu erhalten, etwa wie die Schlesier ihren Rübezahl schonen, die unwillig werden, wenn ein Fremder seinen Namen in den Wald hinein ruft, was sie selbst sich niemals erlauben. Treffend wird das Verhältnis in einem Märchen bezeichnet, wo das linke Auge des Menschen mit einer Salbe bestrichen fortan ihre wahre häßliche Gestalt, das rechte den Schein wunderbarer Schönheit sieht. Nur das Märchen von Darby Duly (K. v. K. 2, 23) macht Ausnahme und stellt einen andern Charakter dar, denn er führt Streiche aus ganz in der Art, wie im deutschen (Nr. 61) das Bürle. Immer tritt der Inhalt der irischen Märchen mit scharfer und sicherer Bestimmung hervor, und sie unterscheiden sich darin zu ihrem Vortheil von den deutschen, wo die vielfach gestörte oder durch fremde Einflüsse geschwächte Überlieferung oft Lücken und einen Mangel an Zusammenhang verräth: dagegen fehlt ihnen das Zutrauliche und Heitere das diesen eigen ist, die gerne mit der Aussicht auf lange und dauernde Glückseligkeit schließen. Aber die Elfen sind auch bei den Iren seltner geneigt sich als gütige und wohlthätige Wesen zu beweisen, und ihre Gaben müssen ihnen mit List abgewonnen werden. Andere Verhältnisse, als die aus der Berührung mit der Geisterwelt hervor gehen, werden hier kaum erwähnt. Wie häufig wird z. B. in den deutschen Märchen das schwere Geschick geschildert, das Kinder von einer bösen Stiefmutter

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_394.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)