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Besser sind in dieser Beziehung die Stücke aus der Erdélyischen Sammlung. Ich habe schon oben (S. 345) gezeigt daß bei Gaal der größte Theil ähnlichen deutschen Märchen entspricht, doch ist das äußere Gewand meist sehr verschieden, wie z. B. die drei Königstöchter (Stier S. 34) zeigen, in welchen offenbar unser Hänsel und Grethel (Nr. 15) liegt. Doch Einiges gehört den Ungarn allein, ist schön und sinnreich, wie z. B. der Traum (Stier S. 14) und die Pomeranzen (das. S. 83). Anderer Art ist der Eisenlaci (Mailáth Nr. 20) der an den mongolischen Gesser erinnert. Nirgend sind fremde Einwirkungen so wahrscheinlich als bei den von Deutschen, Slaven und Walachen umgebenen Ungarn und auf einem von so verschiedenen Völkern bewohnten Boden. Mailáth liefert überhaupt nur sechs Märchen, die zwar, wie ausdrücklich gesagt wird, aus dem Munde des Volks aufgenommen, aber aus mehreren zusammen gesetzt sind: dadurch ist eine Anhäufung des Wunderbaren entstanden, die das Wesen des Märchens zerstört, das eine Vereinigung des Unerhörten mit dem Gewöhnlichen und Alltäglichen verlangt. Die Erzählung von den Brüdern weist auf einige deutsche (Nr. 29. 53. 107) hin, ebenso Pengö (Nr. 62. 111. 197). Die Gaben enthalten, wenn auch unvollkommen, das Märchen von der Gänsemagd (Nr. 89). Einzelne Züge, in anderer Verbindung, deuten gleicherweise auf Verwandtschaft, so geht, wie bei Brünhilt, die Zaubermacht der Jungfrau verloren (Mailáth 2, 30), sobald sie sich verheirathet: Schlangen bringen Kräuter herbei und beleben damit einen Todten (2, 195), wie im deutschen Märchen (Nr. 16): aus dem Blut wächst ein Baum mit Goldäpfeln hervor (2, 196) wie im Einäuglein (Nr. 130) aus dem Eingeweide der Ziege. Bei Stier wird in den Anmerkungen der Zusammenhang mit den deutschen Überlieferungen nachgewiesen.

Einige Grade näher als die finnischen stehen uns die Märchen celtischer Völker. Bei den Iren, wo die Quelle noch reichlich fließt, hat Crofton Croker zuerst die Bahn gebrochen. Der Inhalt seiner Sammlung ist echt, und auf eine geschickte Weise sind in die Erzählungen seltsame, kühne aber lebendige Anschauung verrathende Redensarten, Bilder und Gleichnisse des Volks eingewebt: man muß bedauern daß die Darstellung zu dem ausgebildeten Geschmack der jetzigen Zeit sich etwas mehr zuneigt als zuträglich ist, zumal wenn sie jene Ironie anwendet, die uns zu verstehen gibt daß das Märchenhafte nur das Erzeugnis einer durch den Rausch erregten Phantasie sei,

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_393.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)