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Schoß, bis er wieder lebendig wird, wie bei uns (Nr. 46) die in dem Blut schwimmenden Glieder der zerhackten Schwester wieder belebt werden.

Von den drei finnischen Märchen bei Bertram ist das zweite, das Mädchen auf dem Meer, sichtbar mit der weißen und schwarzen Braut (Nr. 135) verwandt, zeigt sich aber vollständiger und gehaltvoller.

Ganz der Geist von Kalevala, nicht minder bedeutsam, nur milder, das heißt ohne die Beimischung des Ungeheuern, offenbart sich in den Märchen der ehstnischen Finnen. Was kann anmuthiger sein als die Erzählung von der Leuchte, welche die Hallen Altvaters erhellt? Er überträgt die Sorge dafür zwei unsterblichen Dienern, einem Jüngling und einem Mädchen. Zu diesem, die Ämmarik (Abendröthe) heißt, spricht er „Töchterchen, dir vertraue ich die Sonne, lösche sie aus und verbirg das Feuer, daß kein Schade geschieht.“ Dann zu Koit (Morgenröthe) „Söhnchen, dein Amt ist, die Leuchte zu neuem Lauf wieder anzuzünden.“ Keinen Tag fehlt die Leuchte am Himmelsbogen, im Winter hat sie lange Rast, im Sommer nur kurze Ruhezeit, und Ämmarik übergibt die erlöschende unmittelbar den Händen Koits, der sie alsbald zu neuem Leben anfacht. Zu einer solchen Zeit sehen beide einmal sich zu tief in die braunen Augen, ihre Hände fassen einander, ihre Lippen berühren sich. Altvater sieht es und spricht „seid glücklich als Mann und Weib.“ Sie antworten „Alter, störe unsere Freude nicht, laß uns ewig Braut und Bräutigam bleiben, so ist die Liebe immer jung und neu.“ Nur einmal im Jahr, vier Wochen lang, kommen beide zur Mitternachtszeit zusammen. Dann legt Ämmarik die erlöschende Sonne in die Hand Koits, ein Händedruck und ein Kuß beseligt sie. Die Wange der Ämmarik erröthet und spiegelt sich rosenroth am Himmel, bis Koit die Leuchte wieder anzündet. Weilt Ämmarik zu lange, so ruft ihr die Nachtigal scherzend zu „säumiges Mädchen, die Nacht wird zu lang.“ Dem geheimnisvollsten nährt sich die Dichtung der Völker und weiß es in ihrer Unschuld zu deuten. Ein Märchen beschreibt die Entstehung der verschiedenen Sprachen, Altvater kocht Wasser in einem Kessel, und nach den verschiedenen Lauten die es beim Brodlen von sich gibt, wird den heran nahenden Völkern die Sprache zugetheilt: nur die Ehsten die zuerst kommen, als das Wasser noch nicht kocht, erhalten die Sprache Altvaters. Wird gesagt die Scheidung

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_385.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)