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ersetzen, die Nachbildung strahlt kein Licht aus. Das Höchste aber, was die Brüder schaffen, ist der dem Boden Fruchtbarkeit verleihende, alle Wünsche erfüllende Sampo, in dessen Besitz zu gelangen, von feindlicher Seite List und Gewalt angewendet wird. Zuletzt ins Meer geschleudert, zerbricht er, so daß seine Schätze auf dem Grund liegen bleiben und nur einzelne, von den Wellen ausgeworfene Stücke wieder an den Tag kommen. Der Nibelungehort, dessen Werth auch mehr in den damit verbundenen wunderbaren Dingen als in dem angesammelten Gold beruht, darf wohl damit verglichen werden. Die Heldensage setzt staatlich geordnete Völker voraus, die um Unabhängigkeit oder um Oberherrschaft kämpfen, menschliche Helden treten auf, an denen manchmal noch der Widerschein höherer Abkunft haftet: hier sind es Götter, die einander den Besitz übernatürlicher, wunderkräftiger Dinge streitig machen. Auch die drei Brüder sind göttliche Wesen, der älteste von ihnen, der Herr des Liedes (um mich eines Ausdrucks des Mittelalters zu bedienen), hat dreißig Jahre in dem Schoß der Mutter gelegen, ehe er das Licht der Welt erblickte: schon am zweiten Tag schmiedet er sich ein Pferd das leicht ist wie ein Halm, auf dem er über das Meer weg reitet. Nirgend Rohheit oder Verwilderung, neben den Äußerungen eines ungezähmten Übermuths steht Sanftheit, zarte Empfindung und liebevolle Betrachtung der Natur, wie sie dem schön geschilderten Hirtenleben eigen ist. Die Darstellung ist durchaus märchenhaft, sie kümmert sich um Wahrscheinlichkeit so wenig als der Gedanke bei der Auffassung des Übersinnlichen an irgend eine Schranke sich bindet: sie weiß die ausschweifendste Phantasie zu überflügeln. Ein Ochse ist so groß, daß eine Schwalbe den ganzen Tag zwischen seinen Hörnern zu fliegen hätte und das Eichhorn von dem einen Ende des Schwanzes bis zu dem andern einen ganzen Monat zu laufen, wobei es doch der Erschöpfung wegen auf der Mitte des Weges rasten müßte; das Bild wäre als Übertreibung in andern Dichtungen unerträglich gewesen, dieser Poesie ist es angemessen. Einzelne Anklänge an die deutschen Märchen sind in der Abhandlung über das finnische Epos nachgewiesen, ich will noch einiges mit jenen Gemeinschaftliche hier anmerken: der Pfad über Nadelspitzen, Schwertecken und Streitäxte gleicht dem Weg über Kämme und Stacheln (Nr. 79). Die Mutter zieht die einzelnen Glieder ihres zerstückten, in den Fluß geworfenen Sohns aus dem Wasser, fügt sie zusammen und wiegt sie so lange auf ihrem

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_384.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)